Das Rosenhaus
blieb ihr fast
das Herz stehen. Sie hielt die Luft an.
Lily hatte das Strichmännchen und die wenigen Worte, mit denen sie
Liams Zeichnung ergänzt hatte, beim Saubermachen wiedergefunden. Fassungslos
angesichts ihrer eigenen Dummheit hatte sie ihre Zusätze so gut sie konnte
ausradiert und den Plan in die Schublade seines Schrankes gelegt.
Doch der leichte, trotz sorgfältiger Radierung zurückgebliebene
Schatten war Liams scharfem Blick nicht entgangen. Mit den Fingerspitzen fuhr
er jetzt darüber, als würde er Blindenschrift lesen.
Er wandte den Blick von der Zeichnung ab und richtete ihn auf das
Fenster, hinaus in die Schwärze der Nacht.
Lily schöpfte Hoffnung. Vielleicht hatte er gar nichts bemerkt.
»Abendessen ist gleich fertig«, verkündet sie so normal wie möglich.
»Ich habe keinen Hunger«, entgegnete er tonlos.
»Du musst aber etwas essen.«
Er antwortete nicht, starrte nur weiter auf das Fenster und auf die
dahinterliegende Finsternis und das darin versinkende Meer.
»Ich habe dein Leibgericht …«
»Ich habe gesagt, ich habe keinen Hunger«, fiel er ihr ins Wort.
Lily sank das Herz.
»Was ist denn los, Liam?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort
kannte.
»Was los ist? Du willst wissen, was los ist? Was ist das da?« Er
konnte den Zorn in seiner Stimme nicht verhehlen, als er auf den Plan zeigte.
»Das ist gar nichts.« Sie stellte die Tassen ab, eilte zum
Zeichentisch und griff nach dem Papier.
»Wenn es nichts ist, wieso willst du es mir dann unbedingt
wegnehmen?« Abwehrend legte er die Hand auf den Tisch.
Lily seufzte. Biss sich auf die Lippe. Sah ihn reumütig an.
»Ich war wütend. Ich habe das nicht so gemeint. Ich wollte dich
nicht wirklich …«
»Verlassen?«, unterbrach er sie.
Aus seinem Blick sprach eine so tiefe Verletzung, dass es Lily die
Sprache verschlug.
»Du wolltest mich verlassen?« Ausdruckslos sah er sie an.
Sie schüttelte heftigst den Kopf.
»Nein, wirklich nicht, Liam, das musst du mir glauben.«
»Und was ist das dann!?«, platzte es wütend aus ihm hervor.
»Ein Fehler, ein dummer Fehler! Wir hatten uns gestritten, und ich
war sauer.«
»Wir hatten uns gestritten?«
»Ja, am Abend vor deinem Unfall. Wir hatten einen Mega-Zoff, und am
nächsten Morgen ging es gleich so weiter, und ich war so verletzt und wütend,
dass ich unvernünftig und albern reagiert habe … Ach, Liam.«
Sie kniete sich neben ihn und wollte ihn in den Arm nehmen, aber er
nahm all seine Kraft zusammen, um sich ihr zu entziehen.
»Lass mich, Lily. Bitte.«
»Bitte, ich will es dir erklären.«
Doch er schüttelte den Kopf.
»Ich möchte alleine sein.«
»Aber …«
»Bitte, Lily.«
»Wie denn? Ich kann dich doch so nicht allein lassen.«
»Und das ist genau der Punkt, stimmt’s?« Aus hohlen Augen sah er sie
an. »Du könntest mich so nicht verlassen, selbst wenn du wolltest, stimmt’s?
Und darum sag ich es jetzt, Lily: Geh.«
»Was?«
»Ich will, dass du gehst.«
»Ich soll gehen …?«
»Ja, zurück nach London, egal, was du willst, aber bleib bloß nicht
hier.«
Lily hatte Mühe, Ruhe zu bewahren. Sie nahm sein Gesicht in ihre
Hände und zwang ihn eher unsanft, sie anzusehen. Es war ihr egal, ob sie ihm
wehtat, denn ihr tat es bis zur Besinnungslosigkeit weh, dass der Mann, den sie
liebte, glaubte, dass sie nicht mehr mit ihm zusammen sein wollte.
»Ich gehe überhaupt nirgendwo hin, Liam. Ich gehöre hierher, zu
dir.«
»Ich will dich hier aber nicht haben.«
»Das meinst du nicht wirklich.«
Wie recht sie doch hatte. Er wollte nicht, dass sie ihn verließ.
Doch gleichzeitig meinte er es bitterernst, denn er hatte das Gefühl, dass sie
ihn verlassen wollte, und er wollte ihrem Glück auf keinen Fall im Wege stehen.
»Ich möchte nicht von hier weg. Ich möchte hier bei dir sein, Liam.
Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch. Und weil ich dich liebe, möchte ich nicht,
dass du den Rest deines Lebens mit einem Krüppel verbringen musst.«
»Du bist kein Krüppel. Du wirst wieder gesund.«
»Na, wenigstens glaubt einer von uns daran.«
»Weil es stimmt.«
»Und wenn nicht?«
»Du wirst wieder gesund«, sagte sie mit fester Stimme.
»Und wenn nicht?«, wiederholte er ebenso stur.
»Dann werden wir auch zurechtkommen. Zusammen. Aber du wirst wieder
gesund werden, Liam.«
Er nickte langsam, als stimme er ihr zu, doch sein Blick sagte etwas
anderes.
»Zusammen«, wiederholte sie, küsste ihn und lehnte ihre Stirn gegen
seine. Dann sah sie ihm
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