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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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und stieß es in die helle Haut des langen dünnen Halses. Ein kühler Luftzug strömte gegen sein Handgelenk, dann ein Strom von heißem, klebrigem Blut. Ihm war, als müsse er sich übergeben. Ängstlich zog er die Hand zurück. Der runzlige flache Kopf darunter wand sich zuckend auf dem Kissen, und aus der Kehle spritzte goldenes Blut. Er wischte die Hand am Bettzeug ab, aber je mehr er abwischte, desto klebriger wurde sie und desto stärker wurde sein Ekel. Das glitschige Schwert in der Hand, drehte er sich um und rannte ins vordere Zimmer. Dort riss er eine Handvoll Stroh aus dem Ofen, um seine Hand und sein Schwert abzuwischen. Das Schwert glitzerte schimmernd im Licht und schien ein eigenes Leben zu gewinnen.
    Damals hatte er jeden Tag heimlich mit dem Schwert gespielt, das ihm Hufschmied Cheng der Jüngere gegeben hatte, und immer, wenn er den Kopfkissengesprächen seiner Mutter mit dem Mönch lauschte, zog er es aus der Scheide. Wenn die Dorfbewohner ihn verspotteten und ihn «kleiner Abt» nannten, starrte er sie mit einem Blick an, der ihnen das Blut in den Adern gerinnen ließ. Nachts lag das Schwert unter seinem Kissen, sprach zu ihm und hielt ihn wach. Er wusste, dass die Zeit gekommen war.
    Der Vollmond war hinter dichten bleifarbenen Wolken verborgen, und leichter Regen fiel. Alles im Dorf schlief, und die Erde sog die hellen Regentropfen langsam in Pfützen, die sich mit silbernem Wasser füllten. Mit einem gelben Regenschirm aus Wachstuch kam der Mönch ins Haus. Von seinem Zimmer aus konnte Yu Zhan’ao sehen, wie er den Regenschirm zusammenklappte und sich geruhsam den Schlamm von den Schuhsohlen kratzte. Sein kahler Schädel glänzte im Lampenlicht.
    Yu Zhan’ao hörte seine Mutter fragen: «Wo kommst du denn mitten in der Nacht her?»
    «Ich habe im Westdorf die Siebentagemesse für die Mutter des großen Bissigen gelesen.»
    «Ja, aber so spät? Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.»
    «Warum nicht?»
    «Weil es regnet.»
    «Und wenn es noch viel schlimmer regnete, hätte ich mir einen Kochtopf auf den Kopf gesetzt, um dich zu besuchen.»
    «Beeil dich und komm rein!»
    «Tut dir der Bauch noch weh?» fragte der Mönch leise.
    «Es ist besser...au ...»
    «Was ist los?»
    «Der Vater des Jungen ist jetzt beinahe zehn Jahre tot, und sieh dir an, was aus mir geworden ist. Ich weiß ja nicht mehr, wo oben und unten ist.»
    «Dann entscheide dich eben für oben. Ich werde die Sutren für dich lesen.»
    In dieser Nacht tat Großvater kein Auge zu. Schlaflos lag er da und lauschte dem Ruf des Schwerts unter seinem Kissen, dem Prasseln des Regens vor dem Fenster, den gleichmäßigen Atemzügen des schlafenden Mönchs und seiner Mutter, die im Schlaf sprach. Erschreckt fuhr er auf, als er das unheimliche Gelächter einer Eule im Baum hörte. Er zog sich an, nahm sein Schwert und stand mit geneigtem Ohr in der Tür des Zimmers, in dem seine Mutter und der Mönch schliefen. Sein Herz war einsam und leer wie eine Wüste. Vorsichtig öffnete er die Tür und trat hinaus in den Hof. Er sah zum Himmel auf. Die bleifarbenen Wolken waren dünner als zuvor, ein grauer Morgenschimmer zeigte sich. Noch immer fiel leichter Frühlingsregen, befeuchtete langsam und ruhig die Erde und plätscherte leise in den Pfützen. Er folgte den Windungen der Straße zum Kloster Tianqi und überquerte den winzigen Bach auf den schwarzen Trittsteinen.
    Tagsüber war der Bach so klar, dass man die winzigen Fische und Krabben am Grund zählen konnte. Aber jetzt war das Wasser unter dem leichten Nebel grau und trübe, und das Geräusch des plätschernden Regens stimmte ihn traurig und ängstlich zugleich. Die Steine waren nass und schlüpfrig, das schimmernde Wasser stieg. Der Anblick der kleinen gekräuselten Wellen, die gegen die Steine unter seinen Füßen schlugen, nahm ihn gefangen. Blühende Birnbäume umrahmten das glatte sandige Ufer. Er überquerte die Furt und betrat den Obsthain. Der sandige Boden lag fest unter seinen Füßen und federte doch leicht nach. Einzelne Wassertropfen fielen von den Bäumen. Die weißen Birnenblüten schienen strahlend im Nebel, aber die kühle Luft ließ nichts von ihrem Duft spüren.
    Das Grab seines Vaters im Birnenhain war von Unkraut überwuchert und von verborgenen Löchern durchbohrt, die Generationen von Mäusen hinterlassen hatten. Er versuchte, sich an den Anblick seines Vaters zu erinnern, aber sosehr er sich bemühte, er konnte nur das unscharfe Bild eines schlanken, großen

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