Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
angenehm.»
«Dann gerne.» Lina spürte zwar schon die Wirkung, aber nachdem sie seit ihrem Umzug meist nur Wasser getrunken hatte, um den kostbaren Tee für kühlere Tage aufzusparen, war sie sehr dankbar für die Abwechslung.
«Haben Sie sich hier schon eingelebt?», fragte er unvermittelt, während er ihnen einschenkte.
«Ja … schon.»
Ihre zögerliche Antwort ließ ihn aufmerken.
Sie seufzte. «Ich habe immer sehr viel zu tun gehabt im Hause meines Bruders. Der Tag war ausgefüllt, und die wenigen Mußestunden waren kostbar, und ich habe sie sehr genossen. Aber jetzt ist fast der ganze Tag Muße, und es fällt mir schwer, Freude am Lesen und Nähen zu haben.»
Er nickte. «Ich hörte, dass Ihr Bruder in der nächsten Woche zurückkommt.»
«Man erwartet ihn schon morgen.»
«Frau Dahlmann erwähnte, dass er darauf bestehen könnte, dass Sie zurückkehren.»
«Ja, das wird er wohl. Mein Vater hat mir eine Note unterzeichnet, in der er mir die Mündigkeit gibt.»
«Darf ich sie sehen?»
«Sicher.» Lina stand auf und ging in ihr Schlafzimmer, um das Papier zu holen.
Borghoff studierte es sorgfältig. «Vor Gericht hätte das kaum Bestand.»
«Ich weiß.» Lina lächelte unglücklich. «Sie sollten sich vielleicht darauf einstellen, mich zur Carlstraße zurückbringen zu müssen.»
«Möglicherweise. Aber doch erst, nachdem alles juristisch geprüft ist. Ich bin Polizist, kein Advokat.»
Lina sah ihn verblüfft an. War er wirklich auf ihrer Seite? «Sie würden meinem Bruder meine Überstellung verweigern?»
«Ja. Aber wenn er prozessiert, wird er gewinnen, und dann kann ich mich nicht mehr dagegen sperren.»
«Trotzdem würde mir das sehr helfen, vielen Dank.»
Er stand auf. «Wer weiß, vielleicht wollen Sie bald freiwillig zurück.»
Ahnte er etwas von ihren Geldproblemen? Nein , dachte Lina, ich habe ihm gerade gesagt, dass ich mich langweile. «Ich werde schon lernen, etwas mit meinem Tag anzufangen», sagte sie und gab ihm die Hand. «Werden Sie mir erzählen, wenn es etwas Neues bei den Morden gibt?»
Er nickte. «Möglicherweise fällt Ihnen dann ja wieder etwas Kluges ein, das mir weiterhilft.» Wenn er lächelte, veränderte sich sein Gesicht völlig, selbst die entstellte Gesichtshälfte verlor ihre Düsternis. «Gute Nacht, Fräulein Kaufmeister.»
«Gute Nacht, Herr Commissar. Ach …» Lina griff nach der Kerze auf ihrem Tisch. «Darf ich mir noch meine Kerze an Ihrer Laterne anzünden?»
«Sicher.» Er öffnete die Laterne und hielt sie ihr hin, sie zündete die Kerze in dem kostbaren silbernen Halter ihrer Mutter an und folgte ihm zur Tür. Ganz vorsichtig öffnete er sie und schlich, so leise er es in den Militärstiefeln vermochte, nach oben in seine Mansarde.
2. Kapitel
Als Lina am nächsten Morgen erwachte, war es heller Tag, und sie hörte die Ladenglocke, es musste also nach neun Uhr sein. Das gute Bier von Lohbeck hatte ihr einen langen, wohligen Schlaf gebracht.
Sie stand auf und hinkte ohne Schuhe hinüber ins Wohnzimmer, wo die kleine Kaminuhr ihres Vaters stand. Halb zehn – in Lina meldete sich das protestantische schlechte Gewissen, so viel vom Tag verschlafen zu haben. Das Nächste, was ihr einfiel, waren Antonie und das Frühstück.
Sie wusch sich und zog sich an. Gerade als sie fertig war, klopfte es, und Antonie stand mit missmutigem Gesicht und dem Eimer für das gebrauchte Waschwasser und den Inhalt des Nachttopfes vor der Tür.
«Ich habe die Grütze zwei Stunden warm gehalten, Fräulein. Ich brauch den Topf fürs Mittagessen.»
«Sicher.» Lina nahm ihre Wasserkaraffe und entdeckte dann die beiden Gläser, die sie auf dem Tisch stehen gelassen hatte, als sie gestern leicht beschwipst zu Bett gegangen war. Sie nahm eines weg und stülpte es über die Karaffe. «Würdest du bitte gleich das Glas mit nach unten zum Abwaschen nehmen?»
Antonie brummte etwas, aber Lina achtete nicht darauf und stieg vorsichtig die Treppe hinunter.
Die kalte Hafergrütze stand in einem kleinen Schälchen neben dem Herd, sie sah noch ekelhafter aus als sonst. Lina dachte an ihre Vorräte, die sie inzwischen von Guste bei mehreren Besuchen bekommen hatte, ein paar Äpfel, eingemachte Wurst, aber dann dachte sie an ihren schmalen Geldbeutel und begann todesmutig, das zähe kalte Zeug zu essen. Doch nach ein paar Bissen schob sie die Schüssel beiseite. Das war absolut nicht genießbar.
Auf dem Küchentisch lagen die Zutaten für eine kräftige Suppe, etwas Fleisch,
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