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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Monate nur davongelaufen. Ich hatte mir eingebildet, das rote Zimmer hinter mir lassen zu können, aber in Wirklichkeit war ich die ganze Zeit im Kreis gelaufen und nun wieder genau an meinem Ausgangspunkt angekommen.

    Ich fuhr von Market Hill direkt nach Kersey Town, wo ich mir einen Parkplatz suchte. Einem Impuls folgend, lief ich los, um noch rasch ein paar Blumen zu besorgen. Ich hatte keine Ahnung, welche Blumen sie, wenn überhaupt, gemocht hatte, aber ich kaufte einen dicken Strauß Anemonen, violette, rote und rosafarbene, die noch taufeucht glänzten und wie weiche Edelsteine aussahen.
    Dann sprintete ich den Gehsteig entlang, weil ich nicht zu spät kommen wollte. Pünktlich zu sein war das Mindeste, was ich tun konnte. Ich wollte ihr die letzte Ehre erweisen, wollte ihr sagen, dass es mir Leid tat.
    Ich weiß nicht, warum Lianne mich so tief berührt hatte.
    Ich kannte sie nicht, aber sie war ohne Mutter aufgewachsen, genau wie ich. Ich hatte ihr Gesicht erst gesehen, als sie tot war, ein rundes Gesicht mit Sommersprossen auf der Nase. Ich wusste nichts über ihr Leben, ich kannte nicht mal ihren richtigen Namen.
    Niemand kannte ihn. Vielleicht hatte sie in Wirklichkeit Lizzie oder Susan, Charlotte oder Alex geheißen. Wie auch immer. Sie war ein unbekanntes Mädchen, das in einem städtischen Grab beerdigt wurde, und womöglich würde ich, eine fremde Frau, ihr einziger Trauergast sein.
    Als ich eintraf, kamen gerade die Leute aus der vorherigen Beisetzung – Orgelmusik vom Band geleitete sie hinaus, und anschließend, nach ein paar Minuten der Stille, begleitete mich dieselbe Musik hinein. Der Raum war ziemlich lang und cremefarben gestrichen. Im hinteren Teil reihten sich neue Holzbänke aneinander. Vor den Bänken stand Liannes Sarg. Außer mir war niemand gekommen. Ich wusste nicht, was ich mit meinen Blumen tun sollte. Ich blickte mich einen Moment ratlos um, dann legte ich sie auf den hellen, glänzenden Sarg mit den goldfarbenen Griffen, setzte mich anschließend in die vorderste Reihe und lauschte der Musik. Nach einer Weile hörte ich hinter mir ein Rascheln, und eine Frau nahm neben mir Platz. Sie hatte ihr Haar mit einem Tuch zurückgebunden und sagte im Flüsterton zu mir: »Hallo, ich bin Paula Mann, von der Stadt.« Sie wartete einen Moment, ehe sie weitersprach: »Ich habe sie nicht gekannt, aber ich bin diejenige, die diese Bestattung organisiert hat. Sie ist in unserem Distrikt gestorben, und da sie sonst niemanden hat … die arme Kleine. Jedenfalls fällt diese Aufgabe dann uns zu. Wenn unsere Zeit es erlaubt, schauen wir vorbei und erweisen den Verstorbenen die letzte Ehre. Manchmal schaffen wir es nicht, aber es ist einfach nicht richtig, sie ganz allein auf den Weg zu schicken.«
    »Kit Quinn«, stellte ich mich vor, und während wir uns die Hand gaben, dachte ich: Nicht nur eine, sondern gleich zwei Frauen, die um dich trauern.
    »Ich nehme an, Sie haben sie auch nicht gekannt?«
    »Nein.«
    »Das dachte ich mir. Wenn es Angehörige oder Freunde gibt, treiben wir sie in der Regel auf«, erklärte sie. »Es ist erstaunlich, wie viele Menschen ganz allein sterben. Bei den meisten weiß man nicht mal, wo sie herkommen. Das sagt etwas über unsere Art zu leben aus, denke ich. So viel Einsamkeit.« Ihr Gesicht verzog sich.
    »Sie haben also versucht herauszufinden, wer sie war?«
    »Das ist mein Job. Im Grunde bin ich fast so eine Art Detektivin, bloß dass es sich in der Regel nicht um ein Verbrechen handelt. Ich bekomme die Leichen, für die sich niemand gemeldet hat, und muss herausfinden, ob es nahe Angehörige oder auch Freunde gibt. Wenn nicht, organisiere ich die Beerdigung und kümmere mich um die Habseligkeiten der Verstorbenen. In den meisten Fällen muss ich die Sachen wegwerfen. Manchmal fühle ich mich dabei ganz schrecklich, beispielsweise, wenn ich auf Fotos, Briefe oder andere Dinge stoße, die mal jemandem sehr viel bedeutet haben müssen. Wir packen alles zusammen, bewahren es ein paar Monate auf und werfen es dann weg oder verbrennen es.«
    »Was haben Sie mit Liannes Sachen gemacht?«
    »Bei ihr war es anders – wir wissen nicht mal, ob sie irgendwelche Sachen besaß. Alles, was wir bekamen, war eine Leiche, die man am Kanal gefunden hatte.«
    »Kommt so etwas nicht häufiger vor?«
    »Nur hin und wieder – obwohl es natürlich öfter passiert, als man meinen möchte.«
    Die Orgelmusik wechselte, und der Kaplan kam herein, sodass wir beide verstummten. Er sah uns

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