Das sag ich dir
Bulgare, und sein bester Freund, Wolf, war Deutscher. Keiner der beiden sah auch nur im Entferntesten aus wie ein Durchschnittsstudent. Sie waren keine zu groß geratenen Public-School-Bubis. Wolf war zehn, Valentin mindestens fünf Jahre älter als ich. Mein Vater hatte viele ältere Brüder, die ich allesamt idealisierte. Ich stellte mir vor, dass Dad immer jemanden gehabt hatte, der sich um ihn kümmerte, und genau das wollte ich auch haben. Wolf, der weder irgendwo arbeitete noch studierte, hatte im gleichen Haus wie Valentin ein Zimmer gemietet. Dort waren sich die beiden begegnet, und dort lernte auch ich ihn kennen. Wolf trug einen Regenmantel á la Bogart, derbe, schwarze Schuhe und schwarze Lederhandschuhe. Seine Handschuhe zog er offenbar nur aus, wenn er auf den öffentlichen Plätzen im Brook Green Tennis spielte, nicht weit entfernt von meinem jetzigen Wohnort. Rafi nimmt dort bei einem geschmeidigen, südafrikanischen Tennislehrer Unterricht, und ich bringe ihn immer hin.
Valentin und ich saßen auf Bänken vor dem Pub gegenüber und lachten laut, wenn Wolf jemanden vom Platz fegte. Anders als Valentin oder ich fand Wolf weder sich noch den Rest der Welt absurd und lachhaft. Hätten wir uns darin alle geähnelt, so wäre das wohl auch langweilig gewesen.
Wir fanden es höchst amüsant, dass Wolf stets eine elegante Aktentasche aus Leder dabeihatte, die er sich an die Brust presste, damit auch ja niemand hineinschauen konnte, und die er mit einem Schlüssel öffnete. Was bewahrte er darin auf? Knarren, Geld, Drogen, Messer, Heftklammern? Er öffnete sie halb und warf einen misstrauischen Blick in die Runde, um sicherzugehen, dass ihm niemand zusah, aber da er die Neugier der Leute geweckt hatte, gab es natürlich jedes Mal Zuschauer.
Wolf und Valentin hatten Zimmer in einer maroden Pension in der Gwendre Road, einer Seitenstraße der North End Road, Westlondon, die einer alten Witwe gehörte. Valentin, der angeblich zum Vergnügen Kierkegaard und Simone Weil las, sagte gern mit einem Zwinkern zur Witwe: »Raskolnikow hätte sich hier wohlgefühlt.«
Wir mussten lachen, und sie erwiderte stets: »Hier fühlt sich jeder wohl.«
Rund um den Küchentisch versammelt, debattierten wir über philosophische Fragen, redeten über Sport, tranken Bier und rauchten Hasch. Der Linoleumbelag löste sich vom Boden, und es stank nach Gas und Katzenpisse; in einer Ecke stand ein Eisenofen, die wackeligen Tische waren mit Wachstuch bespannt, die Lehnstühle sahen schmierig aus, das Sofa war allem Anschein nach unermesslich tief. Auf die Klospülung war nicht immer Verlass, die Fenster schlossen nicht richtig, und meist war es kalt. Und da die Ölöfen zwar stanken, aber nicht heizten, trugen wir bald auch drinnen Mäntel.
Am liebsten unterhielt ich mich mit Valentin über moralische Imperative und Theorien über Nihilismus und Mord, die er bei Balzac, Nietzsche, Turgenjew und Dostojewski entdeckt hatte, sowie über die Frage, ob und wann es legitim sei, die Welt von schwachen, dummen oder bösen Elementen zu befreien, damit sich andere Menschen frei entfalten konnten. Hatte man das Recht zu töten? Denn schließlich waren es nur die hirnrissigsten Pazifisten, die das Töten auf gar keinen Fall zulassen wollten. Als Ergänzung zu diesen Spekulationen sahen Valentin und Wolf im Fernsehen Krimis und Filme mit Sylvester Stallone, und Streifen, in denen Steve McQueen mitspielte, waren ein Muss für sie. »Berufsberatung« nannte ich das. Ajita sah immer eine Weile zu, aber irgendwann rief sie dann: »Zu viele elektrische Stühle!«, und verließ überstürzt das Zimmer.
»Darauf wird er später mal sitzen«, murmelte ich Valentin zu und nickte in Richtung Wolf. Valentin, der abends immer im Kasino arbeitete, sah mit seinem dunklen Anzug, der Fliege und den polierten Schuhen todschick aus. Wahrscheinlich, fällt mir jetzt ein, hatte ich meinen Stil mit den schwarzen Anzügen von ihm abgeschaut. Val war Osteuropäer, und er war als Kommunist erzogen worden. Er hatte gute Manieren und war weltgewandt, dem westlichen Hippie-Humbug weit überlegen.
Wolf war ein Abenteurer, und seine Geschichten - er wollte mit Stewardessen und Kellnerinnen gevögelt und Playboy-Häschen gefickt haben - fand ich jedes Mal packend. Ich bewunderte seinen Pfadfinder-Stil: Er hatte im Arsch versteckte Diamanten aus Südafrika geschmuggelt, Idi Amin und Kim Philby - zusammen - in Tripolis gesehen, bevor er verhaftet worden war, weil man ihn für
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