Das sag ich dir
Gesicht. »Stimmt etwas nicht?«
»Eigentlich mag ich nicht. Ich hasse es auszugehen. Ich habe doch meine Leute, die Kinder und Bushy. Henry bringt mich ganz durcheinander. Vielleicht stürzt er mich ins Verderben, und ich habe mir mein Leben schon zu oft verdorben. Muss ich wirklich los?«
»Ja.«
Hinter uns räusperte sich Bushy. »Miriam«, sagte ich, »das ist doch wie früher. Du machst jetzt die Sause in die Nacht, und ich gehe zu Bett.«
»Du könntest ja mitkommen«, sagte sie. »Aber Henry will mich allein treffen.«
»Ich arbeite doch an meinem Buch. Und das interessiert mich am meisten.«
Im Laufe der letzten zehn Jahre hatte ich zwei Bücher mit Fallstudien veröffentlicht, Sechs Personen auf der Suche nach Heilung und Der Deuter der Zeichen. In jedem Buch knöpfte ich mir eine Reihe von Patienten vor, erörterte die jeweiligen Sitzungen und philosophierte, während sich die Geschichten entfalteten, über das Wesen alltäglicher Krankheiten oder Symptome: Ängste, Zwänge, Hemmungen, Phobien, Süchte. Das war so normal und alltäglich, dass sich jeder Leser darin erkennen konnte. Es waren Symptome, um die sich ganze Leben ordnen und an denen sie manchmal scheitern.
Zu meiner eigenen Überraschung und der meines Verlags waren die Bücher erfolgreich und wurden in fünf Sprachen übersetzt. Zusätzlich zu dem Versuch, Freuds Idee von der Fallstudie als einer Mischung aus Literatur, Spekulation und Theorie neu zu beleben, boten sie auch eine Möglichkeit, die Analyse einer neuen Generation zu erläutern und zu zeigen, wie sie gelingen oder auch scheitern konnte. Daher ging es nicht zuletzt um die Frage, warum Menschen ihre Symptome nicht loswerden möchten - seine Krankheiten zu verlieren, kann riskant sein -, weil man diese zur Bewältigung anderer Konflikte verwenden kann.
Ich hatte Fachbegriffe vermieden und entdeckt, dass diese Schilderungen von Leid naturgemäß die Strukur, den Aufbau und den erzählerischen Schwung von Geschichten hatten. Genaugenommen handelte es sich um Charakterstudien, deren Objekte Collagen aus echten Patienten, Fragmenten meiner eigenen Person und frei
erfundenen Elementen waren. Näher - und es war recht nahe - war ich dem literarischen Schreiben nie gekommen. Die Form war relativ frei, anders als die des wissenschaftlichen Aufsatzes; ich konnte darin ausdrücken, was mich umtrieb, und über meine alltägliche Arbeit sowie das Denken anderer sinnieren, von Dichtern, Philosophen und Analytikern.
Als Schriftsteller war also ich nicht ganz unerfahren. Ich hatte einen Vertrag für ein weiteres Buch, und ich hatte fest vor, ihn zu erfüllen, denn ich brauchte das Geld. Aber dieses Material über Ajita, das sich spontan ergab und die meiste Zeit in Anspruch nahm, die ich für das Schreiben erübrigen konnte, war anders. Ich fand, dass mein auf den ersten Blick willkürlicher und chaotischer Bericht über sie einer psychoanalytischen Sitzung glich: eine Mischung aus Träumen, Wünschen, Unterbrechungen, Auseinandersetzungen, Phantasien, Widerständen, Erinnerungen an verschiedene Lebensphasen und auch ein Versuch, sich einen Weg durch dieses Labyrinth zu bahnen - mit welchem Ziel? Genau das wollte ich herausfinden.
Ich begleitete Miriam zur Vorderseite des Hauses. Mir fiel auf, dass Bushy die Tasche trug, in die sie ihre Sachen für Übernachtungen packte. Bevor ich in mein Auto stieg, gab ich ihr einen Kuss und sah zu, wie Bushy ihr die hintere Tür aufhielt und, während sie sich hineinzwängte und dabei ihr sogenanntes Altweiber-Geschnaufe unterdrückte, wartete, bis sie es sich bequem gemacht hatte. Als sie schließlich zu ihrem Vergnügen aufbrach, winkte sie mir und rief: »Auf bald, Bruderherz.«
NEUN
Meine Liebste weinte, sie bebte. In einer solchen Verfassung hatte ich sie noch nie erlebt.
Ajita und ich breiteten gerade unsere Handtücher aus und suchten den Himmel nach Wolken ab, als sie heftig weinend zusammenbrach. Es dauerte eine Weile, bevor sie zugab, dass sie etwas Ernstes bedrückte. Ihr Vater hatte Probleme in seiner Fabrik, die sie nach ihrem Universitätsexamen gemeinsam mit ihm leiten sollte. Sie hatte sogar laut überlegt, ob wir beide die Fabrik führen könnten, wenn ihr Vater sich irgendwann zur Ruhe gesetzt hatte.
Im Fernsehen war eine Dokumentation über die Fabrik ausgestrahlt worden, die ich durch Zufall mit Mum gesehen hatte, allerdings ohne zu kapieren, dass es um Ajitas Familie ging.
Einige Monate zuvor war ein Regisseur mit Ajitas Vater
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