Das sag ich dir
Zettel, nie habe er in einem Buch so viel surreale Poesie, Verrücktheit und Blödheit entdeckt. (Danach fiel er über Celine her.) Ich schenkte Mustaq mein angedetschtes Exemplar von Lou Reeds Transformer, das inzwischen meine Ohren wurmte, aber immer, wenn ich zu Besuch war, musste ich mir wieder den dreckigen, dekadenten Bowie-Sound anhören.
Gelegentlich versuchte er noch einmal zuzugreifen, und außerdem zog er sich immer vor meinen Augen um - »Ich will ja nur wissen, ob ich dir in Streifen gefalle.« »Ja, wenn sie fest in deinem Arsch stecken.« Doch im Haus erwies er sich als verlässlicher Verbündeter, vorausgesetzt, ich sprach mit ihm. Er war ein bisschen wie ein nerviger kleiner Bruder. Er hängte sogar das Bild von mir auf, neben den Fotos von Boxern und Schauspielern und einer von Baileys frühen Aufnahmen von Jagger, auf der Mick wie ein mürrischer, jugendlicher Mod aussah.
Immer, wenn ich Mustaq traf, lud er mich zu einem Konzert oder ins Kino ein. Ich lehnte stets ab, bis er auf eine absolut unwiderstehliche Sache verfiel: drei Karten für die Stones in Earl's Court. Wir saßen ganz hinten, und die winzigen Gestalten auf der Bühne glichen kleinen Puppen. Es war wie Fernsehen, außer dass man nicht umschalten konnte. Ajita und ich knutschten, doch Mustaq war wie gebannt und saß in seinem Mick-Jagger-T-Shirt vorgebeugt da. Am Schluss sagte er: »Ich will auch so angestarrt werden. An jedem Tag meines Lebens! Glaubst du, ich könnte das schaffen, Jamal?«
»Dein Vater würde sich ein Loch in den Bauch freuen, wenn du das schaffst«, antwortete ich.
An dem Tag, als der Vater früh nach Hause kam, nahm er mich nicht weiter wahr, aber ich konnte ihn ausgiebig betrachten. Er fuhr nicht wieder zur Arbeit, sondern lag mit einem riesigen Glas Whisky auf dem Sofa, starrte auf den Fernsehbildschirm und rauchte Kette. Er war groß, dünn, wirkte streng und war fast kahl. Sein Gesicht war braun und so faltig und pockennarbig, als wäre eine Bombe neben ihm explodiert.
Obwohl die Sechziger vorbei waren und der Feminismus sich etabliert hatte, hatten die alten Männer, der allgemeinen Erwartung entsprechend, immer noch die meiste Macht. Väter waren würdevoll; sie besaßen zu viel Autorität, um mit den Kindern auf dem Fußboden herumzukriechen; sie waren distanziert; sie machten einem Angst. Dieser Mann lachte ein paar Mal gemeinsam mit Ajita, doch er lächelte nicht. Allem Anschein nach hatte er überhaupt keinen Charme. Ich würde ihn als furchteinflößend bezeichnen. Ajita hätte ich sofort geheiratet, aber mit ihrem Vater wollte ich nicht verwandt sein.
Als das Auto durch das Tor in die Fabrik raste, erblickte ich noch etwas - nämlich Ajita, auf der Rückbank kauernd, die Hände auf die Ohren gedrückt. Was tat sie hier? Warum hatte sie mir nichts davon erzählt?
Ich rief und winkte, aber das war sinnlos. Das Spektakel dauerte nicht lange.
Die Leute begannen sich zu zerstreuen.
»Merkwürdiger Anblick«, sagte ich laut.
»Wie meinst du das?«, fragten mich zwei neben mir stehende Studenten, aufgeputscht von ihrem Protest.
»Ein paar Asiaten aus der Arbeiterklasse, die von einer Rotte weißer Studenten aus der Mittelschicht missbraucht werden.« Um noch eins draufzusetzen, fügte ich hinzu: »Ich wette, eure Väter haben alle einen Doktor.« Sie starrten erst einander und dann mich an. »Für wen bist du?«, wollten sie wissen.
Später kam Ajita zum College. Wir waren morgens bei der Demo gewesen, aber das erwähnte keiner von uns beiden. Ich hatte jede Menge Fragen. Liebt man jemanden bedingungslos, oder verändert sich die Liebe, wenn man mehr über den geliebten Menschen erfährt und plötzlich ein anderes Bild von ihm hat? Die Liebe stand nie still, denn es
kam immer wieder Neues hinzu. Damals, als ich gelangweilt zu Hause gehockt hatte, hatte ich mich nach dem Unbekannten gesehnt, nach einem Leben voller Experimente. Genau das bekam ich jetzt, und zwar in größerem Maße, als ich es mir je hätte träumen lassen.
Abends lag ich dann auf meinem Bett. Mutter guckte unten Fernsehen, Miriam war im Hammersmith Odeon bei Joan Armatrading. Ich fragte mich, was Ajita jetzt tat, in genau diesem Moment. Wahrscheinlich machte sie sich Sorgen wegen des Streiks. Dann kam mir der Gedanke, dass dies nicht der einzige Grund für ihre Aufgewühltheit sein konnte.
Ich dachte zum ersten Mal: »Ajita ist mir untreu.« Ist das nicht die Sorge aller Liebenden? Wenn man einen Menschen begehrt und dieser
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