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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanif Kureishi
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dadurch noch begehrenswerter wird, liegt es doch auf der Hand, dass er auch von anderen begehrt wird, oder? Aber schon in der Sekunde, als ich daran dachte, hatte ich das Gefühl, dass dieser Gedanke mehr war als nur eine Phantasie. Wodurch irritierte Ajita mich im Moment? Ich hatte intuitiv gespürt, dass sie etwas vor mir verbarg. Wieso war sie so seltsam drauf? Ja: Weil sie etwas zu verbergen hatte!
    Das Geheimnis würde nicht so bald enthüllt werden. Wenn ich sie das nächste Mal sah, musste ich sie unbedingt danach fragen. Ich wollte alles wissen.
    ZEHN
    Mutter hatte Miriam bis vor kurzem an Geburtstagen und an Weihnachten besucht. Sie schlief auf einem Lehnstuhl ein, erwachte mit einem sabbernden Hund auf dem Schoß und ließ sich mit rasenden Kopfschmerzen von Bushy nach Hause fahren. Inzwischen kam sie jedoch nicht mehr. Sie sagte, es sei ermüdend, worauf Miriam erwiderte: »Tja, dann musst du mich eben wie alle anderen im Fernsehen anschauen.«
    Obwohl es nicht einfach war, Miriam aus ihrem Viertel loszueisen, zumal sie sich ohne irgendeine Entourage nicht weit bewegte, bestanden Bushy und ich darauf, dass sie und ich ungefähr alle drei Monate gemeinsam mit unserer Mutter zu Mittag aßen, meist in der Royal Academy am Piccadilly. Dorthin gingen alle älteren Frauen mit ihren Söhnen, und Mutter betrachtete den Laden als »ihren Club«. Außerdem genoss sie eine stille Teerunde bei Fortnum's, wo man Miriam mit der Begründung des Hauses verwiesen hatte, sie sei »nicht anständig gekleidet«. Vermutlich hatte man noch nie eine Frau mit so vielen Tätowierungen gesehen. Mutter fühlte sich durch Miriam düpiert, und Miriam brodelte und fluchte, weil Mutter sie »pubertär« genannt hatte.
    Nachdem Mum bei der Bäckerei gekündigt hatte, arbeitete sie im Büro einer großen Firma und ließ sich mit Mitte fünfzig pensionieren. Sie hatte anständig verdient und bekam eine Rente. Sobald Miriam und ich zu Hause ausgezogen waren, folgte Mutters Leben jahrelang der gleichen Routine. Der Alte-Damen-Gang zum Laden, im Schlepptau die Tasche auf Rädern, dann ein paar Soaps im Fernsehen, Coronation Street und Emmerdale, ein Spaziergang im Park, falls es nicht zu windig war, ein Termin beim Arzt, der sie in helle Aufregung versetzte, der Besuch einer Freundin, die immer nur von ihrem verstorbenen Mann erzählte, die Tode von nahen Freunden oder Nachbarn, in deren Häuser dann junge und laute Familien einzogen.
    Sie hatte uns immer wieder gesteckt, ihr Leben geopfert zu haben - und zwar für uns. Ohne die Last zweier Kinder würde sie in Paris auf den Tischen tanzen, wie sie es ausdrückte. Als echte Hysterikerin war ihr der Tod lieber als der Sex, und sie betonte immer wieder, »endlich sterben« zu wollen. Wie sie unter Seufzern und mit kläglichem Blick hinzufügte, »sehne« sie sich nach dem Tod; sie sei »bereit«. Da sie sich ihr Leben lang versteckt oder totgestellt hatte, konnte man Miriam und mir wohl keinen Vorwurf daraus machen, dass wir sie irgendwann nicht mehr beachteten. Eines Tages mussten wir allerdings feststellen, dass sie keineswegs auf das Grab zueilte, um dort endlich das zu finden, was ihr auf dieser Welt gefehlt hatte. Stattdessen hatte sie ihr Leben umgekrempelt. Nun wurde sie immer von Billie begleitet, egal, wohin sie ging.
    Soweit ich wusste, hatte Mutter der sexuellen Leidenschaft nur wenig Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet. Nach Vater hatte sie keine feste Beziehung mehr gehabt. Sie blieb zwar einige Male über Nacht fort, behauptete aber stets, bei einer Freundin gewesen zu sein. Miriam und ich feixten und vermuteten, dass sie jemanden besucht hatte, den wir Mr Unsichtbar nannten. Manchmal entdeckten wir Programmhefte von Tanz-Shows oder Theateraufführungen sowie Ausstellungskataloge, doch bei uns zu Hause tauchte nie jemand auf.
    Eigentlich hätte ich merken müssen, dass in meiner Mutter irgendetwas in Gang gekommen war, denn wie sie mir eines Tages eröffnete, wollte sie ins Kino, an einem »Ort namens ICA«. Ob ich wisse, wo das sei. Ich musste gestehen, dort einen Teil meiner Jugend verbracht, mir Shows und Filme und auch die Mädchen an der Bar angeguckt zu haben. Mutter konnte nur zugeben, mich kaum gekannt und auch nicht gewusst zu haben, was ich so alles angestellt hatte, doch sie freute sich, dass ich gelernt hatte, mich in der Stadt zu bewegen. Nun wollte sie einen Film über einen Maler sehen. Als ich ihn in Time Out nachschlug, stellte ich fest, dass es sich um Andreij

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