Das Sakrament
dachte an die Geschichte, die er ihr erzählt hatte, die Geschichte von der Nachtigall und der Rose.
Sie weinte.
Kurz vor der Morgendämmerung fuhr Amparo in der Finsternis zusammen, als die Tür zu ihrer Zelle aufging. Eine Lampe beleuchtete Anacletos Gesicht. Der Magen krampfte sich ihr zusammen. Sie wandte sich ihm zu, damit er ihr nicht die Arme verdrehte. Anacleto hob die Hand. Darin hielt er ein Stück dunklen Stoff. Als das Licht der Lampe darauf fiel, schimmerte der Stoff, als sei er lebendig. Er war wunderschön anzusehen. Und er war rot. Es war Carlas Kleid.
Carlas wunderschönes rotes Kleid.
Amparos Mund wurde trocken, und zum erstenmal verspürte sie Todesangst.
Anacleto warf ihr das Kleid hin.
Es landete auf ihren Oberschenkeln, glitt ihr über die Haut. Sie wußte, daß dieses Kleid ihr Ende bedeutete, und doch fühlte es sich herrlich an. Sie schaute zu Anacleto. Der Strick, den sie in seiner Hand zu sehen erwartete, war nicht da, aber auf seinen Zügen spiegelte sich eine schwarze, kindliche Wut, die sie noch nie erblickt hatte. Eine Wut, die jemand anderer verursacht hatte, die sich aber nun gegen sie richtete. Anacleto deutete auf das Kleid auf ihrem Schoß.
Amparo schüttelte den Kopf.
»Zieh es an«, befahl er.
Amparo umklammerte den Elfenbeinkamm, bis sich die Zähne in ihren Handrücken bohrten.
»Nein«, erwiderte sie, »nie und nimmer.«
S AMSTAG , 8. S EPTEMBER 1565
In der Guva
Stille. Dunkelheit. Stein.
Zeit ohne Tage. Zeit ohne Nächte.
Ohne Sonne. Ohne Sterne. Ohne Wind.
Die unglückseligen Geschöpfe, die in der unbezwingbaren Guva gelitten hatten, waren an Hoffnungslosigkeit zugrunde gegangen. Wie Schiffbrüchige, die zu Kannibalen werden, hatten ihre Gedanken und Alpträume ihnen den Verstand aufgezehrt.
Aber nicht den Verstand von Mattias Tannhäuser.
Er war der erste der vielen Insassen der Guva , der diesen finsteren Aufenthalt genoß.
Eine schwindelerregende Mischung aus Erschöpfung, Einsamkeit und Frieden durchdrang ihn, und er hatte die Weiten seiner Träume durchmessen, in denen Gesichter lächelten und Wein in Strömen aus den Felsen floß, wo alle Frauen schön und alle Männer sanftmütig waren und wo viele seltsame Tiere umherwanderten, ohne je irgend jemanden zu bedrohen. Die Erleichterung, nicht mehr in der Schlacht zu sein, fern vom Lärm des Krieges, zeigte mindestens genausoviel Wirkung wie das Opium. Er schlug häufig sein Wasser ab, in kleinen Mengen, die er auf der ganzen Oberfläche dieses umgedrehten Kegels verteilte, wo sie eintrockneten und sich nicht als Lache zu seinen Füßen sammelten. Stundenlang stemmte er seine Hände und Füße gegen die gebogenen Wände und stärkte so die matten Muskeln und Sehnen wieder. Er dachte über die Geheimnisse der Quintessenz nach, denn aus dem absoluten Nichts entsprangen doch alle Dinge. So könnte es wieder geschehen. Er erinnerte sich an die Handlungen und Lehren Christi, die ähnliche Grundgedanken enthielten. Er begriff, wie edel sie waren, und hier in der Guva , wo die Grenze zwischen dem Unendlichen draußen und dem Unendlichen in seinen Gedanken zeitweise zu schmelzen schien, bat er Gott um Gnade. Er spürte sie in der Nähe, wie die Geschöpfe des Waldes wittern, daßsie sich einer Quelle nähern. Aber er fand sie nicht. Daraus schloß er, daß das Pfand des Teufels, das auf seiner Seele lag, noch nicht ausgelöst war. Er dachte nicht über das Schicksal seiner Lieben nach, auch nicht darüber, welche finsteren Pläne der Inquisitor schmiedete, denn er war machtlos, sie zu beeinflussen. So machte Tannhäuser die Guva zu seiner Stärke und nutzte seine Verlassenheit dazu, seinen Körper und seinen Geist zu stählen. Er schlief lange, in den glockenförmigen Hohlraum der Grube geschmiegt. Stets wachte er verkrampft und mit wundgescheuertem Rücken auf, aber derlei Unbequemlichkeiten waren mit denen des Schlachtfeldes nicht zu vergleichen. Zweimal schreckte er aus dem Schlaf, als ein unbekanntes Wesen zu ihm kam und ein Licht, das nur schwach gewesen sein konnte, seine Sinne blendete. Dann wurde ein in Tuch eingeschlagenes Bündel mit Brot und getrocknetem Fisch über den Rand der Guva zu ihm heruntergelassen. Ludovico wollte ihn nicht aushungern, sondern seinen Willen durch die Isolation und die Ungewißheit brechen. Der Inquisitor würde sehr enttäuscht sein.
Als der schwarze Mönch endlich kam, hatte sein Auftritt jene ganz besondere Dramatik, die ganz allein die Inquisition
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