Das Salz der Mörder
über die ramponierte Fahrbahn. Die
Schlaglöcher wurden größer. Seit Stunden regnete es in Strömen. Die Fenster, hinter
denen man graues Grün vermuten konnte, waren beschlagen. Von Unwettern
entwurzelte Bäume säumten den Weg rechts und links der Landstraße. Manchmal
mussten die Fahrgäste selbst mit Hand anlegen, um vereinzelt schweres Geäst von
der Straße zu räumen. Uns Weiße behelligte man nicht mit solchen Arbeiten. Das
schickt sich nicht für den weißen Mann, wurde uns unter unterwürfigen Gebärden
gesagt. Also stiegen wir wieder in den stickigen, feuchten Bus und harrten der
Dinge. Sonst sahen wir nicht viel vom tropischen Regenwald.
„Freddy,
ich bin tief beeindruckt. Ja, ich bin stolz auf dich. Und die Moral von der
Geschicht - verspottet bloß Idioten nicht. Wer hat dir das Englisch so schnell
beigebracht? Woher kennst du überhaupt dieses ghanaische Märchen vom Bauern und
seinen Sohn Afrum?“
„Schwester
Florence hat es mir letztens erzählt, als ich dich besuchen kam.“
„Da
müsst ihr ja jede Menge Zeit miteinander verbracht haben, in Doktor Websters
Klinik, den anschließenden Englischunterricht nicht eingerechnet. Genug davon.
Wir haben an viel Wichtigeres zu denken als an uralte Märchen. Die Märchen der
Neuzeit liegen hier vergraben. Gold, Freddy, Gold liegt hier vergraben. Lass
uns die Typen nach Strich und Faden ausnehmen. Deine kleine Erzählung war zwar
sehr schön und du hast sie auch ganz nett in fast akzentfreiem Englisch
vorgetragen, doch die goldige Realität ist viel schöner. Nach meiner Uhr
sollten wir längst in dieser Goldgrube sein.“
Mit
zwei Stunden Verspätung trafen wir endlich in jener sagenumwobenen Stadt ein.
„Der Vogel ist
weise. Schau, sein Schnabel, nach rückwärts gerichtet, bejaht für heute was
früher richtig war. Dann schreitet er vorwärts, mit Blick nach vorn, der
Zukunft entgegen, ohne Furcht.“(Sankofa)
In Ghana, im
Reich der Ashanti, bedeutet Sankofa: Wenn Du in die Vergangenheit
siehst,erkennst Du die Zukunft.
69. Zuhause
Eisiger
Regen nieselte auf den spiegelglatten Asphalt. Es war kaum Verkehr zu dieser
frühen Stunde. Von der geschützten Telefonzelle aus, beobachtete ich seit einer
ganzen Weile den Eingang, bevor ich mich entschloss das Haus zu betreten. Wir
waren beide übermüdet und durchnässt. Ich nahm sie an die Hand, und wir
hasteten über die nasse Straße. Durch die dunkle Hofeinfahrt, vorbei an
parkenden Autos und den Mülltonnen von „Gustls Dirndl Shop“, gelangten wir
schließlich unbemerkt zum Hintereingang, der im nächtlichen Schatten des
Nebengebäudes lag. Vorsichtig öffnete ich die Haustür. Ohne das Treppenlicht
einzuschalten und den Fahrstuhl zu benutzen, tasteten wir uns so schnell wie
möglich zur vierten Etage empor. In tiefster Finsternis standen wir vor unserer
langersehnten Wohnungstür. Ich zog das Schlüsselbund aus der Hosentasche und
mein unruhiger Blick fiel zwangsläufig auf die phosphoreszierten Ziffern und
Zeiger meiner Armbanduhr: Dritter, Dritter - drei Uhr dreiunddreißig. Ein
schicksalhaftes Datum? Eine schicksalhafte Zeit? Was konnte jetzt noch
geschehen? Wir hatten es geschafft!
Ich
erfühlte das Schloss, fand den Schlitz, stocherte den Schlüssel hinein, drehte
den Knauf. Die Tür sprang auf und blitzschnell schlüpften wir geräuschlos in
den dunklen Korridor. Ich brachte Gaby sofort in das Badezimmer, um sie heiß
abzuduschen. Dann wickelte ich ihren zitternden Körper in ein flauschiges
Badetuch und trug sie ins Wohnzimmer. Als sie auf der Couch lag, flüsterte ich:
„Wir sind wieder zuhause. Schlaf jetzt, mein Liebling. Gute Nacht.“ Lächelnd
bedeckte ich sie mit ein paar Wolldecken, gleichzeitig fielen ihr die Augen zu.
Ich
lief durch alle Räume. Unser Schlafzimmer, die Kinderzimmer und die Küche, die
ganze Wohnung war leer. Vroni hatte also Nachtdienst, doch wo hielt sich Danny
auf? Ich schaltete im Flur vorsichtshalber die Hauptsicherung aus. Das einzige,
was noch funktionierte, waren Heizung und Telefon. Drei Uhr fünfzig - sollte
ich Vroni anrufen? Nein, unser Telefon wurde auf jeden Fall abgehört, das in
der Klinik wahrscheinlich ebenfalls.
Ich
ging ins Bad. Frisch geduscht und im wollenen Morgenmantel kam ich zurück ins
Wohnzimmer. Ich setzte mich in einen Sessel neben Gaby und wartete auf Vroni,
umgeben von behaglicher Wärme und Dunkelheit. Nur die unaufhörlich blinkende
Leuchtreklame der gegenüberliegenden Immobilienfirma spendete einige
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