Das Salz der Mörder
die in der Maschine verbliebenen
Dienerinnen, angeführt von Frau Dr. Johannsen. Sie warfen demonstrativ ihre
Waffen im hohen Bogen über das Geländer und stiegen mit erhobenen Händen
vorsichtig die eisernen Stufen hinab. Erst jetzt kamen die Kinder. Jungen und
Mädchen hopsten Hand in Hand übermütig aus der großen Maschine, gefolgt von
sechs Betreuerinnen, die die Säuglinge und Kleinkinder auf den Armen trugen.
Zum Schluss trat die Flugzeugcrew aus der 747 und stellte sich winkend auf die
Plattform. In ihrer Mitte standen die beiden Geiseln. Es war vorbei, das Drama
beendet. Reporter und Kameramänner stürmten aus ihren sicheren Verstecken auf
die Boing zu.
Späteren
Verlautbarungen zufolge, wurden vier finale Rettungsschüsse gezählt, die von
vier Scharfschützen der GSG 9 präzise und gewissermaßen zeitgleich abgefeuert
worden waren. Weiterhin gab man bekannt, dass sich hundertdreiunddreißig
Sektenmitglieder ihrer Verhaftung durch kollektiven Selbstmord entzogen haben.
Als der überlebende Teil der Gemeinde zusammengetrieben und in Polizeigewahrsam
genommen wurde, fand man bei den meisten Frauen ein rotes Giftdragee.
Ohne Salz ist das
Leben nicht süß. (russisches Sprichwort)
87. Auf und davon
Natürlich
fühlte sich Veronika nach wie vor beobachtet und verfolgt. Sie ließ Herrn von Bentheim
in einer Nebenstraße am Viktualienmarkt halten. Sie bedankte und verabschiedete
sich. Nachdem sie seinen Wagen davonfahren sah, betrat sie einen kleinen
Friseursalon. Sie wollte sich ihr schulterlanges blondes Haar abschneiden und
schwarz färben lassen. Drei Stunden später stand sie wieder auf der Straße. In
jedem Spiegel, an dem sie vorüberging und in jeder reflektierenden
Schaufensterscheibe betrachtete sie sich heimlich. Veronika Wegner erkannte
sich selbst nicht mehr. Jetzt fühlte sie sich ruhiger und konnte aufatmen. Mit
dem neuen Aussehen war ihr Bekanntheitsgrad auf Null gesunken. Um sich das von
einem größeren Publikum bestätigen zu lassen, ging sie ins Kaufhaus Hertie am
Hauptbahnhof. Hier kleidete sie sich für ihre Reise neu ein. Überdies wollte
Veronika vorteilhaft aussehen, wenn sie ihrem Manfred gegenüberstehen wird.
Selbst von den Kindern erwartete sie erstaunte „Ahs“ und „Ohs“.
Sie
wählte einen Dreiteiler: rosa Rock, rosa Jacke und eine schwarze Seidenbluse
mit Spaghettiträgern. Dazu kamen ein rosafarbener Hut, schwarze Lackschuhe, die
glänzten wie die Bluse, und ein Einkaufsbeutel, in den sie ihre alten Sachen
warf und in der Umkleidekabine stehen ließ. Erneut betrachtete sie sich
ausgiebig im Spiegel - im größten der Damenkonfektion. Was sie sah, war
überwältigend, war nicht mehr die Veronika Wegner von heute Vormittag. Was sie
im Spiegelbild entdeckte, war ein Vamp vom Werbeplakat. Schon hörte sie die
ersten Pfiffe junger Männer, die nicht der einstigen Krankenschwester und nicht
der vom Leben betrogenen Frau galten, die in jeder Talkshow in Tränen
ausbricht. Diese jugendlichen Pfiffe wurden einer völlig anderen Person
gewidmet. Sie hatte es geschafft zu entkommen. Zwar nicht ungeschoren, denn sie
musste ja einige Haare lassen, um dadurch zu einer Unbekannten zu werden - aber
trotz alledem . . .
Doch
noch immer lief sie in München umher. Wie gewöhnlich standen an den
Fahrkartenschaltern und Automaten des Hauptbahnhofs lange Menschenschlangen.
Sie stellte sich dazu und genoss es nicht erkannt zu werden, nicht bekannt zu
sein. Zum ersten Mal seit langer Zeit wurde sie von ihrer Umgebung nicht als
Veronika Wegner wahrgenommen. Während sie die Fahrkarte nach Zürich löste, nahm
sie ihre Sonnenbrille ab und zahlte. Litt sie weiterhin an Verfolgungswahn oder
starrte der junge Schalterbeamte tatsächlich so unverschämt tief in ihre Augen,
dass sie beim Lächeln leicht errötete? Das Klimpern des Wechselgeldes beendete
abrupt dieses kurze Techtelmechtel.
Bis
zur Abfahrt des Zuges waren noch zwei schwierige Stunden zu überstehen. Sie
schlenderte zu Mövenpick und gönnte sich eine Tasse Kaffee und einen
Vanilleeisbecher mit Kaffeelikör. Wieder suchte sie nach den Verlobungsringen,
die ihr Freddy vor fast zwanzig Jahren ins Eis geschmuggelt hatte. Plötzlich
geisterten ihr sehr viele Gedanken gleichzeitig durch den Kopf: wo ist nur die
Unschuld von einst geblieben, warum sieht die heutige Welt so vollkommen anders
aus? Ich vertraue Freddy. Ich bin mir ganz sicher, er wird eine erträglichere
Zukunft für uns erschaffen als wir sie hier zu erwarten haben,
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