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Das Salz der Mörder

Das Salz der Mörder

Titel: Das Salz der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Otto Stock
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denn
ergangen seit unserer Wiedervereinigung?“
    „Ich
weiß nicht. Ich war viel im Ausland.“
    „Hast
dir erst mal die Welt angesehen, stimmt’s, Freddy?“
    Plötzlich
stand ich vor dem kalten Grab im tiefen Schnee, umgeben von anderen kalten
Gräbern im tiefen Schnee. Und ich betrachtete den Stein. Ich zog meine rechte
Hand aus der warmen Manteltasche und fühlte mit den Fingerspitzen die leblosen,
eingemeißelten Schriftzüge nach. „Margarete Gisa Wegner geb. Prieger, * 04. 09.
1924 † 24. 11. 1990“. Durch die trauernde Feuchtigkeit, die
sich langsam in meinen Augen sammelte, verschwamm allmählich mein scharfer
Blick. Hinter dieser Verschwommenheit sah ich die glückliche Unschuld meiner
Jugend. Ich sah meinen Vati und mich im Angelkahn sitzen, starr unsere
Aufmerksamkeit auf die unbeweglichen Posen gerichtet, die manchmal im Bruchteil
einer Sekunde untertauchten, auftauchten, sich flach auf die seichten Wellen
legten, wieder untergingen, um dann endgültig im schnarrenden Geräusch der
Stationärrolle zu entschwinden, die die unendlich lange Angelsehne für den
allmorgendlichen Zweikampf zwischen Mensch und Tier freigab. Ich sah Mutti
schimpfen, wenn Vater und Sohn nach erfolgreichem Fischfang mit prallgefüllten
Käschern zu spät zum Mittagessen kamen; und ich sah Omi mit den Augen zwinkern,
als wolle sie sagen: Freddy, Mutti macht nur Spaß. Merkwürdig: Es ist immer
Sommer in meinen Erinnerungen.
    Ich
stieg ins warme Taxi und Kalle brachte mich zu meinem Häuschen. Waldfrieden,
Wiesengrund 30. Der Knüppelzaun musste repariert werden und brauchte einen
neuen Anstrich mit Karbolineum, wenn es dieses Zeugs heutzutage überhaupt noch
gibt. Die Hecke verschneiden. Der Rasen müsste im Frühjahr gemäht, die
abgefallenen Kiefernäste zersägt, die Kiennadeln zusammengeharkt werden - wann
sollte ich das alles machen, es war Ende Januar 1991, tiefster Winter. Als mir
die Kiennadeln einfielen, fiel mir auch die kleine Susi wieder ein.
    Mühelos
öffnete ich das verrostete Schloss im Gartentor. Es ist unglaublich: Ich
brauchte annähernd fünf Jahre, um den Grund und Boden meiner Kindheit erneut zu
betreten. Was hatte ich nur die ganze Zeit getan?
    Die
Haustür klemmte wie eh und je. Nach ein paar heftigen Stößen mit meiner
Schulter ging sie schließlich auf. Es hatte sich also nicht viel verändert in
der Zwischenzeit. Nun stand ich in Omis Häuschen, das dann Muttis Häuschen
wurde und jetzt mein Häuschen ist. Ich schaute mich in der Veranda um. Man
konnte sich kaum bewegen. Um die Tür zum Wohnzimmer zu erreichen, musste ich
über Kisten und Kartons, zusammengerollten Teppichen, zerlegten Möbeln, und
nochmals über Kisten und Kartons, musste über all das steigen, was Vater,
Mutter und Großmutter, was drei Menschenleben zusammen getragen, zusammen
gelebt und zusammen erlebt hatten. Und in der Stube der gleiche Anblick: das
Inventar dreier gelebter Leben. In einer Ecke, unter Kartons mit ausgeleierten
Einweckringen, entdeckte ich Omas altes Röhrenradio, Baujahr 1938, durch das
dreißig Jahre später meine Beatles ihr „Obladi oblada - life goes on bra“
trällerten. Das Lied schwirrte mir durch den Kopf und ich sah Omi, wie sie in
der glühenden Mittagshitze an der wackligen, gusseisernen Wasserpumpe den
quietschenden Schwengel, im Takt auf und ab bewegend, das kühle Wasser aus der
Tiefe hinauf saugte, die verzinkten Gießkannen füllte, dann, die schwere Last
mühsam von Beet zu Beet schleppend, ihre Blumen goss. Unmerklich perlte
gutmütiger Schweiß aus ihren alten Poren. Mit meinem kleinen Plastikeimerchen
folgte ich Omi durch ihr blühendes Reich, tippelte hinterher, vorbei an
säuerlichen Johannisbeeren und unsterblichen Rhododendron, eifrig bemüht keinen
Tropfen meines kostbaren Nass‘ zu verschütten, streifte knallrote Tomatenstöcke
und dralle Rhabarberblätter, kratzte mich an Brombeersträuchern und roten
Rosen. Es fiel mir alles wieder ein: Garten, Hühner und Kaninchen. Ein frischer
sommerlicher Duft drang in meine verfrorene Nase.
    In
einem Karton fand ich vergilbte Familienfotos. Fröstelnd setzte ich mich auf
eine Kiste mit Geschirr. Es war kalt und Kalle wartete draußen im beheizten
Auto, doch ich ließ mir Zeit beim Betrachten dieser fast vergessenen Bilder.
Und ich sah sie alle vor mir, sah die Vergangenen lebendig werden: Omi mit
Haarnetz beim Pulloverstricken; Vati sucht im Misthaufen Regenwürmer zum
Angeln; Mutti schläft im Liegestuhl, ein aufgeschlagener „Jerry

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