Das Salz der Mörder
„Sag
mal, Kalle, was macht eigentlich die Susi?“
„Susi?
Susanne Hennig? Nach der warst du doch scharf wie eine Rasierklinge, du
Kinderschänder. Susi ist mit einem Wessi verheiratet und heißt jetzt Doktor
Hennig-Schlemminger. Man sieht sie ab und zu im Fernsehen. Sie lebt in Karlsruhe.
Muss dort ein großes Tier beim Bundesverfassungsgericht sein.“
„Die
Susi . . .? Sie war das erste weibliche Wesen in meinem Leben, das mich aus der
Verfassung gebracht hat. Und nun hält sie die Verfassung ein? Ob die dort
wissen, dass sie wegen Zigarettenklauen mal im Kittchen saß? Vermutlich nicht.
Ich hätte sie gern wiedergesehen.“
„Ein-,
zweimal im Jahr kommt sie und besucht ihre Mutter in der Luchstraße. Die alte
Dame wohnt noch immer in dem Haus mit dem hölzernen Balkon im zweiten Stock.
Erinnerst du dich? Mir wurde berichtet - glaubhaft berichtet -, dass sich
seinerzeit ein gewisser Freddy aus Berlin mehrere Male an einem Seil an diesem
Balkon hoch gehangelt haben soll - nachts, wenn die Eltern schliefen. Da dieser
junge Mann das besagte Seil jedoch nicht von selbst an dem Holzgeländer
anbringen konnte, muss sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Helfershelfer im
Obergeschoss aufgehalten haben, der den festen Knoten in den Strick band,
während unten der Jüngling nach oben stierte und nervös von einem Bein auf das
andere hüpfte. Der einzige aber, der dazu fähig war die dicke Wäscheleine an
der Balustrade zu befestigen, hieß Susanne Hennig.“
„Wo
hast du denn diese Geschichte aufgeschnappt? Und selbst, wenn sie wahr wäre,
ist sie längst verjährt.“
„In
Waldfrieden verjährt nichts, das weißt du doch am besten. Ich rufe dich an,
wenn sie hier ist.“
„Ich
weiß nicht, Kalle. Meinst du?“
„Sie
kommt stets allein. Ihren Ehemann habe ich noch nie bei uns gesehen.“
Ich
wechselte das Thema und erklärte ihm, dass ich geschäftlich für zwei oder drei
Monate im Ausland zu tun hätte und bat ihn bis zu meiner Rückkehr auf mein
Häuschen zu achten. Eventuell ein paar Burschen anzuheuern, die im Frühjahr den
Garten in Ordnung bringen. Unser Familiengrab war zwar in Pflege, trotzdem
sollte er einmal im Monat nach dem Rechten sehen.
„Na,
du weißt schon. Wie geht es überhaupt deinem Vater, Kalle?“
„Seit
der Einheit ist er Rentner. Dem geht es gut, dem kann es gar nicht besser
gehen.“
„Grüß
ihn schön von mir, hörst du?“
Ich
gab ihm alle Schlüssel von meinem neuen Besitz. Es waren nur drei: der vom
Gartentor, der Haustürschlüssel und der kleine für das Vorhängeschloss am
Schuppen, in dem sich das Plumpsklosett befand.
Dann
fuhr mich Kalle zum Bahnhof.
Als
ich bei meinen Schwiegereltern eintraf, war es inzwischen Abend geworden. Ich
berichtete ihnen alles ausführlich, bedankte mich nochmals für ihre Hilfe,
übernachtete dort und fuhr am nächsten Morgen mit dem ersten Zug zurück nach
Frankfurt.
44. Jogging
Ich
stand am Fenster meiner vertrauten Unterkunft und sah auf die vergitterte
Nordsee. Der Herbst war gekommen. Farblos glänzte das Meer im nebligen Grau des
Morgens. Wir hatten Flut. Gewaltige Wogen wälzten sich mit einer beängstigenden
Ruhe unerbittlich heran und stürzten krachend über das felsige Ufer zusammen.
Blasse, zerrissene Wolken zogen vom Wind gehetzt am trüben Himmel vorüber. Die
Vogelscharen zogen längst südwärts, nur vereinzelte Eiderenten schwammen
paarweise in den Buchten, und die Möwen umkreisten lautstark den steinigen
Strand. In der Ferne steuerte einsam ein Schiff in Richtung Norden.
Die
Ereignisse der letzten Nacht hielten mich immer noch gefangen. Vergeblich
kämpfte ich gegen sie an, versuchte sie auszulöschen. Ich bemühte mich an alles
Mögliche zu denken. Ich begann die melodische Es-Molltonleiter aufwärts: es; f;
ges; as; b; c; d; es; und abwärts: es; des; ces; b; as; ges; f; es; leise vor
mich hinzusummen. Diese ständig im Hintergrund säuselnde Supermarktmusik, war
tatsächlich imstande meine Konzentration durcheinander zu bringen. Bis ich alle
anderen Tonleitern durch und mit Dis-Moll meinen kurzen Ausflug in die
Musiktheorie beendet hatte, verging eine ganze Weile. Dann erinnerte ich mich
an die unregelmäßigen englischen Verben und wollte sie aufsagen – Präsens,
Imperfekt, Perfekt. Doch die Ermordung des schwulen Lutze ließ mich nicht los.
Es war, als schwebe eine Gewitterwolke über mir und elektrifiziert meine
Nerven. Ich sah tausend Augen auf mich gerichtet, die mich herunterziehen
wollten, in die
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