Das Salz der Mörder
Cotton - Roman“
bedeckt ihr Gesicht; Klein Freddy hoch oben im Kirschbaum, isst Schattenmorellen;
Gruppenbild am See - Vater, Mutter, Kind . . . Fröhliche Schnappschüsse in
Schwarzweiß. Abermals benetzte diese eigenartige Feuchtigkeit meine Augen. Eine
warme Träne rann lautlos über meine verfrorene Wange und fiel abgekühlt auf
eine der verblassten Fotografien.
Als
ich zu mir kam, als ich das Heute vor mir wahrnahm, roch es nach schimmliger
Bettwäsche und feuchtem Mauerwerk, nach abgestanden Leitungswasser, das aus
einem undichten Hahn tropfte. Der vermoderte Geruch der Jetztzeit holte mich
zurück.
Wie
lange Kalle auf mich gewartet hatte, wusste ich nicht. Zum Abschied lud ich ihn
zu Kaffee und Kuchen in unsere ehemalige Stammkneipe ein, in den „Waldfriedener
Hof“. Lebten eigentlich die alten Paulicks noch, die uns früher Brausepulver
und Soleier verkauften? Nein? Wir redeten über die alten Zeiten: über Gisela,
Gudrun, Sabine und Bärbel, und über all die anderen. Was mochte aus ihnen
geworden sein? Was wurde aus Johannes, dem Sohn des Pfarrers, den wir „Johnny -
den Grabscher“ nannten, weil jeder von uns seine Freundin vor ihm in Sicherheit
bringen musste; und Paule war „Gary Cooper“, der sich ständig von mir die
Bluejeans ausborgte, wenn wir sonnabends zum Dorftanz gingen oder beim
Anglerfest feierten, denn er durfte keine Westklamotten tragen - sein Vater war
in der Partei und Held der Arbeit. Und es gab da noch Berthold Hauptmann. Berti
war älter als wir. Er war damals, als sie ihn einlochten, schon fünfzehn. Vater
Hauptmann arbeitete als Triebwagenführer bei der Berliner S-Bahn und hatte das
ehrenvolle Vertrauen unter staatlicher Bewachung den Bahnhof
Berlin-Friedrichstraße - West anfahren zu dürfen. Dies erforderte den Wechsel
einer einzigen Weiche und er befand sich mit seinem Zug im Westen der Stadt.
Auf unerklärliche Weise kam er dadurch zu den sehr beliebten ZDF-Konvertern,
die selbst im freien Teil Berlins erst neu auf dem Markt waren. Vater und Sohn
Hauptmann verhökerten die Dinger illegal aber gewinnbringend an Freunde und
Verwandte. Bis es dann soweit war: Die Sache flog auf. Danach fragte man den
Denunzianten, weshalb er seinen eigenen Schwager und dessen Sohn bei den Roten
verpfiffen habe. Daraufhin antwortete der Befragte lachend am Biertisch, was
man von ihm wolle, und er genaugenommen gar keinen Schwager kenne, der
Hauptmann heißt. Er kenne Hauptmann nur als Dienstgrad bei der Volkspolizei.
Berti
wurde für zwei Jahre in einen Jugendwerkhof gesperrt und seinen Vater steckten
sie drei Jahre in den Knast nach Rummelsburg. Das Arbeitsrechtsverhältnis
zwischen der Deutschen Reichsbahn und Herrn Alfred Hauptmann löste man bereits
vor der Urteilsverkündung. Nach der Haftentlassung eröffnete er gemeinsam mit
seiner Frau einen kleinen Frisörsalon in Waldfrieden. Berti schaffte es nicht,
auf dem geraden DDR-Gleis weiterzufahren. Er stellte einen Ausreiseantrag nach
dem anderen, wanderte von einem Zuchthaus zum anderen, bis er 1980 endlich von
seinem Traumland freigekauft wurde.
„Man
kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen: das Damals im Osten“, meinte
Kalle versonnen. „Glaubt einem ja auch keiner.“
Ich
nippte am Kaffee und stocherte in der Schwarzwälder Kirschtorte, als mir Kalle
das von Bürgermeister Krause erzählte. Der hat sich in der Nacht nach der
Maueröffnung am 9. November 1989 in seinem Gewächshaus erhängt. Zuvor erschlug
er seine Frau und seine siebzehnjährige Tochter - vorsichtshalber, wie es im
Abschiedsbrief hieß. Er hatte Angst, dass ihre Stasi-Vergangenheit bekannt
werden und man ihn und seine Familie bestialisch lynchen würde.
„Mensch,
der Krause, das war ja bloß ein kleiner Fisch im großen, versumpften
Kommunistenteich. Jeder wusste doch, dass er für dieses Pack sogar seine eigene
Mutter verraten hätte, diese feige Sau“, entgegnete ich wütend, während ich den
Rest der Sahne in meinen lauwarmen Kaffee einrührte. „Wenn sich jeder von
dieser speziellen Spezies umgebracht hätte, wäre Deutschland um mindestens eine
Million Verrückter noch gottverlassener als es schon ist. Und es stimmt:
Irgendjemand schützt diese Typen. Denn deswegen sind die ja alle heutzutage
wieder obenauf, haben die große Fresse und noch stolz auf ihr blutrotes
Vermächtnis.“
Hilflos
spielte ich mit dem Kaffeelöffel in meiner Tasse herum und dachte plötzlich an
die Kiennadeln in meinem Garten. Sollte ich ihn fragen . . .? Warum nicht!
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