Das Schicksal in Person
verlieren würde.
Sie schob sich das Kissen in ihrem Rücken zurecht, rückte den Stuhl etwas näher ans Bett und wartete. Zehn Minuten, zwanzig Minuten vergingen. Dann hörte sie plötzlich Elizabeth Temples Stimme, tief und deutlich, aber etwas heiser und nicht so voll wie früher. »Miss Marple.«
Elizabeth Temples Augen waren offen. Sie sah Miss Marple mit vollkommen klarem Blick an. Keine Überraschung lag darin oder irgendeine Gefühlsbewegung. Es war ein prüfender Blick, ein klarer, prüfender Blick.
»Miss Marple. Sie sind Jane Marple?«
»Ja, das bin ich«, sagte Miss Marple.
»Henry hat oft von Ihnen gesprochen, er hat mir von Ihnen erzählt.« Dann machte sie eine Pause. Miss Marple sagte fragend: »Henry?«
»Henry Clithering – ein alter Freund von mir.«
»Ja, auch ein alter Freund von mir«, sagte Miss Marple. »Henry Clithering.«
Sie dachte an die vielen Jahre ihrer Bekanntschaft, an Dinge, die er ihr erzählt hatte, und daran, wie oft sie sich gegenseitig geholfen hatten. Ein sehr alter Freund.
»Ich habe mich an Ihren Namen erinnert, als ich die Passagierliste las. Ich dachte mir, dass Sie es sein müssten. Sie könnten helfen. Das würde auch Henry sagen, wenn er hier wäre. Sie könnten es herausbekommen. Es ist wichtig, sehr wichtig, obwohl es schon so lange her ist. Lange – her.«
Ihre Stimme wurde schwächer, sie schloss die Augen. Die Schwester kam herbei, nahm ein Glas vom Nachttisch und hielt es Elizabeth Temple an die Lippen. Sie trank einen kleinen Schluck und machte eine abwehrende Kopfbewegung. Die Schwester stellte das Glas ab und ging zu ihrem Stuhl zurück.
»Wenn ich helfen kann, werde ich es tun«, sagte Miss Marple. Sie stellte keine weiteren Fragen.
Miss Temple sagte: »Gut.« Und nach einer Weile wieder: »Gut.«
Einige Minuten lag sie mit geschlossenen Augen da, als ob sie schliefe, doch öffnete sie sie plötzlich wieder.
»Welche? Welche von ihnen? Das muss man herausbekommen. Wissen Sie, wovon ich spreche?«, fragte sie.
»Ich glaube, ja. Von einem Mädchen, das gestorben ist – Nora Broad.«
Elizabeth Temple verneinte.
»Nein, nein. Das andere Mädchen. Verity Hunt.« Und nach einer Pause: »Miss Marple. Sie sind alt – älter als damals, als er mir von Ihnen erzählte. Aber Sie können immer noch versuchen, etwas herauszubekommen, nicht wahr?«
Ihre Stimme wurde etwas höher und der Ton dringlicher. »Sagen Sie, dass Sie es können! Ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich weiß es. Eine von ihnen, aber welche? Finden Sie es heraus. Henry hätte gesagt, dass Sie es können. Vielleicht ist es gefährlich – aber Sie werden es versuchen, nicht wahr?«
»Mit Gottes Hilfe, ja«, sagte Miss Marple. Es war ein Versprechen.
»Ah.«
Ihre Augen schlossen sich, dann öffnete sie sie wieder.
»Der große Stein, der von oben kam. Der Stein des Todes!«
»Wer hat den Stein hinuntergerollt?«
»Ich weiß es nicht. Das ist unwichtig – nur – Verity. Das müssen Sie herausbekommen. Die Wahrheit. Ein anderer Name für Wahrheit – Verity.«
Miss Marple sah, dass ihre Kräfte nachließen. Sie flüsterte: »Tun Sie, was Sie können…«
Sie schloss die Augen. Die Schwester kam wieder ans Bett. Sie fühlte ihren Puls und gab Miss Marple einen Wink. Miss Marple stand auf und folgte ihr hinaus auf den Gang.
»Das war für sie eine große Anstrengung«, sagte die Schwester. »Sie wird so schnell nicht wieder zu sich kommen. Vielleicht überhaupt nicht mehr. Ich hoffe, Sie haben etwas erfahren?«
»Ich glaube nicht«, sagte Miss Marple. »Aber man kann nie wissen.«
»Haben Sie etwas herausbekommen?«, fragte Professor Wanstead, als sie zum Wagen hinausgingen.
»Einen Namen«, sagte Miss Marple. »Verity. War das der Name des Mädchens?«
»Ja, Verity Hunt.«
Elizabeth Temple starb eineinhalb Stunden später, ohne das Bewusstsein noch einmal wiedererlangt zu haben.
13
» H aben Sie heute schon die Times gelesen?«, fragte Mr Broadribb seinen Partner Mr Schuster.
Mr Schuster erklärte, dass er sich die Times nicht leisten könne, er halte den Telegraph.
»Da steht es sicher auch«, sagte Mr Broadribb. »Bei den Todesanzeigen. Miss Elizabeth Temple, Doktorin der Naturwissenschaften.«
Mr Schuster schaute ihn ratlos an.
»Schulleiterin von Fallowfield. Sie haben doch schon von Fallowfield gehört, oder?«
»Natürlich«, sagte Schuster. »Die Mädchenschule. Wurde vor etwa fünfzig Jahren begründet. Erstklassig und phantastisch teuer. So, das war also
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