Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend
schwänzte die restlichen Stunden und fuhr mit der Straßenbahn zum Pershing Square. Dort setzte ich mich auf eine Bank und wartete, dass sich etwas tat. Es dauerte recht lange. Schließlich gerieten sich ein Religiöser und ein Atheist in die Haare, doch sie waren nicht besonders gut. Ich war Agnostiker, und als solcher hatte man nicht viel zu streiten. Ich verließ den Park und ging hinunter zur Ecke 7th Street und Broadway. Dies war das Stadtzentrum, aber auch hier war anscheinend nichts los. Ich sah nur Leute, die an Fußgängerampeln warteten, bis sie über die Straße konnten. Dann spürte ich, dass meine Beine anfingen zu jucken. Ich hatte meine Schlafanzughose auf dem Spind vergessen. Was war das doch für ein elend beschissener Tag gewesen, von Anfang bis Ende. Ich stieg in eine Bahn der Linie »W«, setzte mich auf einen hinteren Platz und ließ mich nach Hause fahren.
51
Im ganzen City College traf ich nur einen, den ich leiden konnte. Er hieß Robert Becker und wollte Schriftsteller werden. »Ich werde mir das Schreiben so gründlich beibringen, wie’s nur geht. Als würde ich ein Auto auseinandernehmen und wieder zusammenbauen.« »Hört sich nach Arbeit an«, sagte ich. »Ich werd’ es aber tun.«
Becker war zwei oder drei Zentimeter kleiner als ich, aber er war gut beieinander, hatte breite Schultern und kräftige Arme.
»Ich hatte eine Kinderkrankheit«, erzählte er mir, »da musste ich mal ein ganzes Jahr im Bett liegen, und der Arzt ließ mich Tennisbälle kneten, in jeder Hand einen. Davon bin ich so kräftig geworden.«
Er hatte abends einen Job als Telegrammbote, und tagsüber ging er aufs College.
»Wie bist du an den Job gekommen?«
»Ich kannte einen Typ, und der kannte wieder einen.«
»Wetten, dass ich dich fertigmachen kann?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich interessiere mich nur fürs Schreiben.«
Wir saßen auf der Kante eines Erkerfensters. Unten auf dem Rasen blieben zwei Kerle stehen
und starrten mich an.
»Hey«, sagte der eine, »kann ich dich mal was fragen?«
»Nur zu.«
»Ich erinnere mich, dass du in der Grundschule immer ein Schlappschwanz warst. Und jetzt
bist du so ein harter Knochen. Wie kommt das?«
»Keine Ahnung.«
»Bist du ein Zyniker?«
»Wahrscheinlich.«
»Macht dich das froh?«
»Ja.«
»Dann kannst du aber kein Zyniker sein. Die sind nämlich nicht froh!«
Die beiden patschten sich wie ein Vaudeville-Team auf die ausgestreckten Handflächen und
rannten lachend davon.
»Die haben dich schlecht aussehen lassen«, sagte Becker.
»Nee. Die Nummer war zu angestrengt.«
»Bist du ein Zyniker?«
»Ich lass mir zu leicht die Stimmung verderben. Wenn ich zynisch wäre, hätt’ ich wahrscheinlich bessere Laune.«
Wir rutschten von der Fensterbank herunter. Wir hatten unsere Kurse für diesen Tag hinter uns, und Becker wollte noch zu seinem Spind, um seine Bücher zu verstauen. Wir gingen hin, und er warf sie rein. Dann drückte er mir fünf oder sechs Blatt Papier in die Hand.
»Hier, lies das mal. Es ist eine Kurzgeschichte.«
Wir gingen zu meinem Spind. Ich schloss auf und gab ihm meine Flasche in ihrer braunen
Papiertüte.
»Trink ‘n Schluck …«
Es war Portwein.
Becker trank einen Schluck. Ich genehmigte mir auch einen.
»Hast du immer eine Flasche in deinem Spind?« fragte er.
»So oft es dazu reicht, ja.«
»Hör zu, ich hab heut’ Abend frei. Wie wär’s, wenn wir uns treffen, und ich stell dir ein paar
von meinen Freunden vor?«
»Leute geben mir nicht viel.«
»Die sind aber was Besonderes.«
»Ja? Wo denn? Bei dir?«
»Nein. Warte mal, ich schreib dir die Adresse auf…« Er schrieb etwas auf einen Zettel.
»Sag mal, Becker, was machen denn deine Freunde so?«
»Trinken«, sagte Becker.
Ich steckte den Zettel ein.
Am Abend nach dem Essen las ich Beckers Kurzgeschichte. Sie war gut. Ich war neidisch auf ihn. Es ging darum, wie er eines Abends mit seinem Fahrrad durch die Gegend geradelt war und einer wunderschönen Frau ein Telegramm gebracht hatte. Er schrieb objektiv und klar, und er schilderte die Begegnung mit Anstand und Gefühl. Becker behauptete, von Thomas Wolfe beeinflusst zu sein, aber er schwafelte nicht und drückte nicht so auf die Tube wie Wolfe. Seine Emotionen waren da, aber sie knallten einem nicht in Neonbuchstaben entgegen. Becker konnte schreiben. Er konnte es besser als ich.
Meine Eltern hatten mir eine Schreibmaschine gekauft, und ich hatte mich an einigen Erzählungen versucht, doch sie waren mir sehr
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