Das Schlitzohr
reichlich mit Schokolade begoß, war ich schon
wieder so weit nach vorne gerückt, daß mich nur das Podium, auf dem das
Lehrerkollegium stand, daran hinderte, ihm in meiner Begeisterung auf die Füße
zu treten. Noch von der Schule aus rief ich zu Hause an — der
Oberstudiendirektor genehmigte das Telefongespräch persönlich — , um meine
Familie von der bestandenen Prüfung in Kenntnis zu setzen. Auch meine
Wirtsleute hatten mit mir gebangt, und als ich nach Hause kam, fuhr die kluge
Hausfrau riesige Mengen Essen auf, da es für sie außer Zweifel stand, daß mir
in der kommenden Nacht noch eine größere innere Waschung mit Alkohol
bevorstand. Aber als wir uns am Abend im Nebenzimmer des Hotels Hildebrand zu
einer zünftigen Kneipe versammelten, waren wir alle so abgekämpft, daß es gar
nicht so arg wurde, wie wir vorgehabt hatten. In den folgenden Tagen wunderte
ich mich, daß die Welt noch genauso aussah wie vorher, und daß sich im Grunde nichts
geändert hatte. Bis mir die Erkenntnis dämmerte, daß auch das heißest ersehnte
Zeugnis doch nur ein Stück Papier ist und man die wirkliche Reife täglich durch
seine Leistung beweisen muß. Allerdings kam diese Erkenntnis wesentlich später,
und vorerst öffnete dieses Zeugnis mir die Tore der Universität.
Fidele Studienjahre
So zögerte ich nicht, mich an der
Universität München in der naturwissenschaftlichen Fakultät einzuschreiben.
Im Gegensatz zur Stadt München selbst
gefiel mir der Studienbetrieb an der Universität überhaupt nicht. Man war
dauernd auf Achse. Meine Studentenbude war bei einem Metzgermeister in der
Blutenburgstraße, in der Nähe des Zirkus Krone. Die erste Vorlesung begann um
Viertel nach sieben Uhr in der alten Akademie beim Neuhauser Tor; ich mußte
mich deshalb um 6 Uhr 40 auf den Weg machen. Dann kam die Botanikvorlesung um
Viertel nach acht Uhr in der Luisenstraße, mit hängender Zunge kam man gerade
noch zurecht. Daran schloß sich die Chemievorlesung auf dem Gelände des
ehemaligen Glaspalastes an. Der Weg dorthin war zum Glück etwas kürzer. Dafür
mußte man von dort aus zur Zoologie- und Physikvorlesung zur Universität einen
nahezu halbstündigen Fußmarsch zurücklegen. Hatte man noch am Nachmittag
Übungen oder weitere Vorlesungen belegt, so konnte man ohne weiteres auf eine
Tagesstrecke von 15 bis 20 Kilometer kommen.
Da ich die Münchner Verhältnisse von
meiner Weihenstephaner Zeit kannte, hatte ich meinen Vater überredet, mir das
in der Ziegelei vorhandene Motorrad zu überlassen. Eigentlich hätte ich gleich
mißtrauisch werden müssen, als ich mit meiner Bitte leichten Erfolg hatte. Die
Maschine war für die damaligen Verhältnisse äußerst elegant und schnittig
gebaut, doch schon während der Fahrschule hatte ich ziemliche Schwierigkeiten,
sie zum Laufen zu bringen und am Laufen zu halten, und es ist mir heute noch
ein Rätsel, wie ich mit diesem Bock durch die Prüfung gekommen bin. Trotz
seiner 350 ccm holte ich aus dem Motorrad nicht mehr als 40 bis 45 Kilometer
pro Stunde auf der ebenen Strecke heraus. Wenn ich einen Beifahrer auf den
Rücksitz lud oder eine Bergstrecke fahren wollte, betrachtete das der Motor als
eine Zumutung, die er grundsätzlich mit einem Streik beantwortete. Und wenn der
Motor einmal streikte, tat er es mit der Gründlichkeit einer englischen
Gewerkschaft. Der Motor beherrschte auch das Prinzip der Arbeitsteilung
großartig. Ab und zu lief er, die meiste Zeit mußte ich selber laufen. Ich
erkannte bald, daß ich meine Vorlesungen nur dann rechtzeitig erreichte, wenn
ich das Vehikel zu Hause ließ.
Inzwischen hatte sich bei meinen Eltern
wieder eine berufliche und wirtschaftliche Veränderung ergeben. Sie hatten sich
zum Verkauf der Ziegelei entschlossen, da die Lehmqualität des Bodens ständig
abnahm. Weil es stets der Wunsch meiner Mutter war, am Bodensee zu wohnen,
kauften sie in Friedrichshafen ein Haus und bauten ein Feinkostgeschäft ein.
Als das Münchner Semester zu Ende ging,
fuhr ich zu meinen Eltern nach Friedrichshafen. Ich verkaufte das
streikfreudige Motorrad, nützte den neuen Wohnort und stieg auf ein Segelboot
um. Zu diesem Zweck trat ich in den Königlich Württembergischen Jachtclub ein
und erwarb eine alte Segeljolle, die kein anderes Clubmitglied mehr haben
wollte. Sie nahm in ihrer Klasse das Prädikat für sich in Anspruch, das
langsamste Boot zu sein. Bei der ersten Regatta, zu der ich mich stolz meldete,
wurde mir die biblische
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