Das Schloss am See: Mittsommerherzen (German Edition)
Verkehrslärm und lautstarken Baustellen, war es wie ein kleines Wunder.
Er hatte überraschend gut geschlafen und fühlte sich so voller Tatendrang und Energie wie schon sehr lange nicht mehr. Dabei hatte er noch gestern nur den einen Gedanken gehabt: bloß weg von hier. Doch vielleicht, so dachte er jetzt versonnen, besaß dieser erzwungene Aufenthalt im Heimatland seiner Mutter auch seine positiven Seiten.
Mit einem Lächeln auf den Lippen stand er auf, trat ans Fenster und öffnete die Läden.
Die Sonne strahlte vom makellos blauen Himmel herab. Ein würziger Duft nach Wald und frischem Heu erfüllte die Luft. Unten im Hof erblickte er Lisbet, die gerade dabei war, Stroh in eine Schubkarre zu laden. Er hatte sie gestern Abend gesehen, wie sie am Fenster ihres Zimmers gestanden und zu ihm hinübergeblickt hatte. Mehr denn je war sie ihm wie die Prinzessin dieses Schlosses erschienen. Das schulterlange Haar, das wie schwarze Seide ihr Gesicht umspielte … Ihre vollen, sinnlichen Lippen und ihre blaugrünen Augen, die schimmerten wie ein klarer Bergsee …
Sie war schön, gar keine Frage. Und mit ihrer selbstbewussten und zugleich verletzlichen Art reizte sie ihn mehr als all die anderen Frauen, die ihm in den letzten Jahren begegnet waren. Vielleicht sollte er sich seinen Besuch in Schweden ein wenig versüßen, indem er …
Nej!
, rief er sich zur Ordnung. Lisbet war tabu, was
diese
Dinge betraf. Er durfte nicht vergessen, wie viel für ihn davon abhing, dass er Beringholm Slott möglichst schnell gewinnbringend verkaufte. Und Lisbet war die einzige Person, die ihm diesbezüglich noch ernsthaft Steine in den Weg legen konnte.
Für das
Alsterblick
, das Hotel in der Hamburger City, dessen Leitung sein Vater ihm überlassen hatte, brauchte er jeden Cent, den er nur bekommen konnte. Das Gebäude war bei einem Feuer so schwer beschädigt worden, dass umfangreiche Renovierungs- und Reparaturarbeiten durchgeführt werden mussten. An sich kein Problem, schließlich war das
Alsterblick
gut versichert – so hatte Hannes zumindest gedacht.
Ein Trugschluss, wie er kurz nach dem Unglück herausgefunden hatte …
Sein Bruder Tobias war vor dem tödlichen Autounfall mit einer jungen Frau namens Anna-Lena Kerstens zusammen gewesen. Hannes hatte sie erst auf Tobias’ Beerdigung kennengelernt und war mit ihr ins Gespräch gekommen. Sie hatte so verzweifelt, so am Boden zerstört gewirkt, dass er Mitleid bekam. Trotzdem konnte er heute nicht mehr sagen, woran es lag, dass er plötzlich das Bedürfnis verspürte, dieser Fremden zu helfen.
Vermutlich war es wegen Tobias. Hannes war nicht immer gut mit seinem älteren Bruder ausgekommen, dennoch hatte sein Tod ihn tief getroffen. Vor allem, da er das Gefühl nicht abschütteln konnte, eine Mitschuld daran zu tragen.
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Hätte er Tobias doch nur besser zugehört, als dieser ihn an jenem verhängnisvollen Tag auf seinem Handy anrief. Sein Bruder hatte beunruhigt gewirkt. Er erzählte, dass er in den Geschäftsbüchern auf Hinweise gestoßen sei, dass jemand in einer Schlüsselposition Firmengelder veruntreute. Und dieser Jemand hatte die Dokumente so manipuliert, dass er selbst als Schuldiger dastand.
Tobias hatte die Person, die er verdächtigte, bereits zur Rede gestellt – und wurde seitdem das Gefühl nicht mehr los, verfolgt zu werden.
Hannes, der sich nicht sonderlich für die Belange der Firma interessierte, hatte dies als Hirngespinst abgetan.
Die Tragödie aber, die sich bald darauf ereignet hatte, ließ alles in einem vollkommen neuen Licht erscheinen. Seitdem war kaum ein Tag vergangen, an dem sich Hannes nicht mit Selbstvorwürfen gequält hatte.
Mit Anna-Lena bot sich nun die Gelegenheit, postum noch etwas zu tun, das Tobias bestimmt so gewollt hätte. Und als sie ihm erklärte, dass sie für Tobias ihre Heimatstadt verlassen und ihren Job aufgegeben hatte und nach seinem Tod nun praktisch vor dem Nichts stand, hatte Hannes ihr eine Stelle im
Alsterblick
angeboten.
Der größte Fehler seines Lebens, wie er inzwischen leider nur zu gut wusste.
Anna-Lena hatte ihre neue Position in der Verwaltung des Hotels schamlos ausgenutzt, um sich selbst zu bereichern: Sie kündigte einige Versicherungspolicen und steckte das Geld für die monatlichen Beitragszahlungen in die eigene Tasche.
Da sie auch den Posteingang bearbeitete, fiel ihr Betrug lange niemandem auf. Erst als nach dem Feuer, das durch einen Kabelbrand
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