Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
eröffnet.
Kurz zuvor hatte sich folgendes
zugetragen: Eine Mutter hatte ihren dreizehnjährigen epileptischen, aber sonst
geistig gesunden und blühenden Sohn vorgestellt und um dessen sofortige
Aufnahme gebeten, da sie bei der Lage ihres Hauses, unmittelbar am Neckar,
beständig Angst habe, daß er ins Wasser stürze und ertrinke. Leider war es
nicht möglich gewesen, das Kind sofort aufzunehmen; die Mutter hatte auf die
demnächst erfolgende Eröffnung der Anstalt vertröstet werden müssen. Wenige
Tage später war der Kranke in einem Anfall, der mit Schwindel begonnen hatte,
ins Wasser gestürzt und ertrunken.
Der Tod des Knaben, der bei
rechtzeitiger Aufnahme in die Anstalt hätte vermieden werden können, war
Landenberger ein warnendes Menetekel, das ihn tief erschütterte. Der
Gewissenhafte machte sich auch dort Vorwürfe, wo die Vernunft ihn freispricht.
Das Bild des blühenden Kindes kam ihm nicht aus dem Sinn, und noch lange
verfolgte ihn das Weinen der betrübten Mutter. Niemals wieder durfte es
vorkommen, daß die Aufnahme eines Kindes, das durch Krankheit gefährdet war,
abgelehnt wurde. Die Freude, die er immer wieder an den Fortschritten seiner
Pflegebefohlenen erfahren durfte, war ihm der einzige menschliche Trost für
solche Versäumnisse.
Die Anstalt war von da an eine
Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige und Epileptische. Man sah für beide
Abteilungen eine gemeinsame Leitung und Verwaltung vor, die aus einem Arzt,
einem Pädagogen und einem Ökonomen bestehen sollte. Von jetzt an mußte also ein
eigener Hausarzt angestellt werden, der sich hauptsächlich der Behandlung der
Epileptischen widmete. Im übrigen sollten die beiden Abteilungen streng
getrennt bleiben, so daß Schwachsinnige und Epileptische nicht miteinander in
Berührung kamen, weil man eine solche für schädlich hielt. Der Grundsatz wurde
freilich bald wieder aufgegeben, denn das Gegenteil war der Fall. In der Schule
z. B. erwies es sich als geradezu nützlich, beide Arten von Kindern beisammen
zu haben, denn die epileptischen konnten auf die schwachsinnigen einen
anspornenden und belebenden Einfluß ausüben, während diese von selbst ein
wohltuendes Gegengewicht gegen die Streitsucht und Rechthaberei der Epileptiker
bildeten.
Sprunghaft wuchs in den
nächsten Jahren die Zahl der Pflegebefohlenen an. Waren es beim Umzug nach
Stetten noch 60 gewesen, so zählte man vier Jahre später schon 125:90
Schwachsinnige und 35 Epileptische; zehn Jahre später hatte sich die Zahl
wiederum verdoppelt: sie betrug nun 278.
Es war nur natürlich, daß die
Hilfe des Arztes neben der des Pädagogen an Bedeutung gewann, galt es doch den
Versuch zu wagen, die unheimlichen epileptischen Anfälle zu bannen, den
Ursachen der Krankheit nachzuforschen und den Kranken selbst nicht nur
Erleichterung, sondern womöglich Heilung zu verschaffen. So wurde Stetten ein
Ort, wo nicht nur Schwachsinnige zu brauchbaren Gliedern der menschlichen Gesellschaft
erzogen, sondern Epileptiker wieder dem frohen und tätigen Leben zurückgegeben
werden sollten, ein Ort, wo mit den Mitteln der Wissenschaft, der ärztlichen
Kunst und der brüderlichen Liebe von Krämpfen hin und her gerissene Menschen
geheilt wurden.
Schon 1865 veröffentlichte der
Anstaltsarzt Dr. Häberle einen ärztlichen Bericht, in dem er ausführlich den
Ursachen der Krankheit nachging und die Art ihrer Behandlung darlegte. Man
spürt es ihm an, wie sehr der Verfasser unter dem menschlichen Unvermögen litt,
diese unheimliche Krankheit wirksam zu bekämpfen, und wieviel Glaube nötig war,
um die Hoffnung auf Heilung nicht aufzugeben, wenn trotz allem Bemühen
wirkliche Erfolge ausblieben. Es war für ihn ein schlechter Trost, daß die
Kranken meist schon in einem Zustand in die Anstalt kamen, der eine Besserung
von vornherein unmöglich erscheinen ließ. Von frühester Kindheit an hatten sie
an Anfällen gelitten, und der Verfall der geistigen Kräfte war bereits so groß,
daß eine Heilung undenkbar war. Anfangs sah der Arzt schon darin einen
Fortschritt, wenn durch die Pflege in der Anstalt wenigstens eine weitere
Verschlimmerung des Leidens verhindert wurde. Er wies darum immer wieder darauf
hin, daß die an Epilepsie Erkrankten schon zu Beginn der Krankheit in die
Anstalt gebracht werden müßten, und er warnte eindringlich davor, sie der
Behandlung von Kurpfuschern zu überlassen, die es nur auf pekuniäre Ausbeute
abgesehen hätten und deren »Geheimmittel« mit dem zweifelhaften
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