Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
auf die schönen, gesunden
Räume unseres Schlosses, auf unsere geräumigen Gartenanlagen mit ihrem Schatten
und ihrer köstlichen Waldluft, mit der vielfachen Gelegenheit zur Beschäftigung
und schließlich auf unsere gedeihlich und fröhlich aussehende Jugend selbst, so
sind unsere Wünsche und Erwartungen mehr als befriedigt, und wir sehen darin
eine erfreuliche Bestätigung, daß die neue Heimat aus der Hand Gottes uns bestimmt
und zugewiesen war. In dieser Zuversicht konnten wir auch nicht wankend werden,
als die... uns zugesagte Stiftung verweigert und zurückgezogen wurde. Da wir
unser Tun vorher geprüft hatten, so wußten wir, daß weder Gottes Hände an diese
Mittel gebunden seien, noch seine Liebesabsicht sich von uns gewendet habe...
So sehen wir getrost der Zukunft entgegen und wissen, daß die gute Hand Gottes
über uns halten wird, solange das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit unser
Ziel sein wird.«
Manche meinten damals, das
Ganze sei wie ein Märchen gewesen. Aber im Reich Gottes geschehen keine
Märchen, sondern Wunder. Wenn Landenberger später auf den Hofrat von Nürnberg
zu sprechen kam, sagte er: »Im Grunde war er uns doch von Gott geschickt. Wer
weiß, ob wir den Schritt ohne sein Angebot gewagt hätten! Nachdem es geschehen
war, gab es kein Zurück mehr, auch wenn wir wie am Abgrund vorbei geführt
wurden. Wenn unser Stecken und Stab zerbricht, schnitzt Gott uns einen neuen.«
Am Anfang ging in Stetten alles
drunter und drüber. Das Schloß war beim Einzug noch in einem ziemlich
verwahrlosten Zustand gewesen. Aber vor allem klopften immer neue Hilfesuchende
an die Pforte und baten um Aufnahme, nachdem man sie bis jetzt auf Stetten
vertröstet hatte. Es fehlte an Kleidern und Betten, und es kam vor, daß die
Angehörigen beim Eintritt eines Kindes dessen Kleider zurückforderten, weil sie
angeblich geliehen waren, daß die Anstalt aber nicht in der Lage war, neue
Kleider zu stellen. Die Räume im Schloß hatten zwölf Jahre leer gestanden und
waren dementsprechend vernachlässigt und heruntergekommen, die Schloßkapelle
glich einer Rumpelkammer, der sogenannte Rittersaal war ein Tummelplatz für
Schweine und Hühner. Der Park hatte sich zum Urwald ausgewachsen, und in den Gärten
herrschte Wildnis. Im Keller lagen nur wenige Fässer mit Birnen- und Apfelmost
und nur ein »zierlich Fäßlein« mit der Aufschrift: Krankenwein.
Nach und nach kam Ordnung in
das Chaos, wovon sich die Besucher des Jahresfestes 1865 überzeugen konnten.
Am gleichen Tag teilte
Landenberger der aufhorchenden Gemeinde den Beginn eines neuen Abschnitts in
der Geschichte der Anstalt mit: »So Gott will, werden wir im Lauf des nächsten
Jahres in unseren Nebengebäuden, welche noch abgesonderte Gärten haben, eine Zweiganstalt
für schwachsinnige und bildungsfähige epileptische Kinder eröffnen.«
Es war, als hätte Gott nur auf
den Augenblick gewartet, wo er der Anstalt neue Aufgaben stellen konnte,
Aufgaben, deren Lösung aber zugleich eine finanzielle Entlastung bedeutete,
weil sich dadurch in kürzester Frist die noch leer stehenden Räume füllen
sollten. Wie vor 20 Jahren die Not der Schwachsinnigen plötzlich die Gemüter
bewegte und dringend Hilfe erforderte, so waren es jetzt die Epileptiker, deren
man sich annehmen mußte und die man bisher übersehen hatte. Im Jahr zuvor hatte
in der Pfingstweide bei Tettnang der Arzt Dr. Moll die erste Epileptikeranstalt
in Deutschland gegründet. Im Herbst 1865 fand in Bruchsal die südwestdeutsche
Konferenz für Innere Mission statt, auf der er und Pfarrer Balke aus Rheyth vom
ärztlichen und kirchlichen Standpunkt aus auf die heilige Verpflichtung
hinwiesen, die ein christliches Volk habe, für das massenhafte Elend der
Fallsüchtigen auf Abhilfe zu sinnen. Dr. Moll schloß mit den Worten: »Unser
ganzes deutsches Vaterland, ja die ganze Christenheit muß an die Pflicht
erinnert werden, endlich einmal an die ungeheure Anzahl verlassener, kranker
und elender Brüder zu denken, damit sie nicht schutz- und hilflos einem
traurigen Dasein ausgesetzt sind und nicht andauernd eine furchtbare Anklage
gegen die Unbarmherzigkeit ihrer Mitmenschen erheben.«
Große Freude erfüllte die
Versammlung, als ein Mitglied des Ausschusses der Stettener Anstalt und
Inspektor Landenberger in Aussicht stellten, diesem Ruf zu entsprechen und im
kommenden Jahr die ersten Epileptiker aufzunehmen. Tatsächlich wurde am 1.
November 1866 die Abteilung für Epileptische mit neun Kindern
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