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Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Titel: Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Teufel
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zu
bedenken, wie sehr sie dadurch den Zurückbleibenden die Arbeit erschwerten.
    Erst vor einem Jahr hatte der
neue Inspektor sein Amt übernommen. Mit frischem Mut hatte er das schwere Werk
des Umbaues gemeistert. Jetzt, da es dem stilleren Winter entgegenging, wollte
er sich seiner eigentlichen, der seelsorgerlichen Arbeit widmen.
    Wie bitter notwendig das war,
hatte er vor wenigen Tagen erlebt. Er war als Sachverständiger zu einem
Strafprozeß geladen worden. Es handelte sich um einen jungen Mann, der von
seinem 12. Lebensjahr bis zu seiner Konfirmation in der Anstalt gewesen war.
Alle hatten ihn damals gern. Er war liebebedürftig und für die kleinste Wohltat
dankbar, dabei mit seinen Händen nicht ungeschickt, so daß man daran dachte,
ihn in der Landwirtschaft zu verwenden und als Melker auszubilden. Aber er ließ
sich allzu leicht beeinflussen und war ohne inneren Halt.
    Vergebens warnte der damalige
Anstaltsleiter den Vater davor, seinen Sohn, als er konfirmiert war, nach Hause
zu nehmen. Der Vater, der ein Trinker war und seine Familie darben ließ,
steckte ihn in eine Fabrik, wo der Junge zur Not als Hilfsarbeiter Verwendung
fand. Aber er hielt es nicht lange aus. Man nahm ihn nirgends für voll und
schubste ihn überall herum. Eines Tages brannte er zu Hause durch. Er trieb
sich in der Welt herum, begann zu stehlen, wurde mehrfach mit Gefängnis
bestraft, sank immer tiefer und schlug schließlich einen Arbeitskameraden mit
einem Bierkrug nieder. Er konnte von Glück sagen, daß das Gericht seine
verminderte Zurechnungsfähigkeit berücksichtigte und ihn nur wegen fahrlässiger
Tötung zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilte.
    Da mußte nun der Inspektor vor
Gericht aussagen, daß nach menschlicher Voraussicht dieses Leben einen ganz
anderen Verlauf genommen hätte, wenn der junge Mann nach einer regelrechten
Ausbildung auf einem geeigneten Hof hätte untergebracht werden können, wo man
ihn mit Verständnis und Liebe behandelt hätte und auch der Anstaltsleiter mit
ihm in Verbindung hätte bleiben können.
    Der Inspektor hatte erkannt,
wie wichtig es war, mit den entlassenen Pfleglingen so gut als möglich
Verbindung zu halten, sie von Zeit zu Zeit zu besuchen oder nach Stetten
einzuladen, damit sie innerlich gestärkt wurden und Mut und Kraft bekamen, auf
ihrem Posten zu bleiben und so ihr Leben zu meistern. Die Verantwortung für sie
hörte eigentlich nie auf; ihr Leben lang blieben sie ihm auf die Seele
gebunden. Was half das elektrische Licht und die Dampfheizung in Stetten, wenn
die armen Menschen nachher draußen in der Welt kein Licht und keine Wärme
hatten?
     
    Das waren die Gedanken, die den
Inspektor an jenem Abend des 16. November 1911 in seiner Amtsstube bewegten,
als er plötzlich ein dumpfes unterirdisches Rollen und Dröhnen vernahm, das von
Sekunde zu Sekunde anschwoll und näher zu kommen schien, bis plötzlich der
Boden unter ihm schwankte, das Zimmer sich auf und ab bewegte, wie ein Schiff
in schwerem Wellengange, Bilder von den Wänden fielen, Fenster sich auftaten
und das uralte Balkenwerk anfing, zu ächzen und zu krachen, als ob es bersten
wollte!
    Er sprang auf: »Gott sei uns
gnädig, ein Erdbeben!«
    Die Zimmertür öffnete sich von
selbst, seine Frau erschien mit angstvollem Gesicht: »Was ist das, ein
Erdbeben? Ich lag schon im Bett.«
    Er eilte mit ihr durch Fluren
und Gänge, treppauf, treppab. Die Erdstöße schienen nachzulassen. Pfleger und
Pflegerinnen waren wach, erschrocken, entsetzt. Die Kinder aber schliefen.
    »Laßt sie schlafen, nicht
wecken! Es scheint vorüber zu sein.« Die Uhr schlug die zehnte Stunde.
    In allen Häusern schauten sie
nach. Außer den Hauseltern, den Pflegern und Pflegerinnen schlief alles, und
niemand sonst hatte gemerkt, daß die Erde wankte und schwankte, als wäre das
Ende gekommen.
    »Gott hat uns wunderbar
behütet«, flüsterte der Inspektor seinen Helfern und Helferinnen zu. Keine
Panik, kein Schaden. Nur ein paar Dachziegel lagen vor den Häusern.
    Gegen Mitternacht legte er sich
nieder. Morgens um 3 Uhr war noch einmal ein leichter Erdstoß zu verspüren.
    Anderen Tages stand in der
Zeitung, ein Erdbeben habe ganz Süddeutschland erschüttert; der eigentliche
Herd sei in der Balinger Gegend gewesen, dort seien Häuser eingestürzt und
Menschen ums Leben gekommen.
    In Stetten aber hatten die
Kinder und die Kranken geschlafen, als lägen sie in Abrahams Schoß, und am
nächsten Sonntag predigte der Inspektor aus dankerfülltem

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