Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
überall
herumstreunte, kümmerte sich niemand darum, wie man ihm helfen könnte. Erst als
die Tat geschehen war, hieß es: Den hätte man schon lange fortbringen sollen!
Der Schulrat zog daraus für
sich den Schluß, daß es allerhöchste Zeit sei, überall im Lande Hilfsschulen
für schwachbegabte Kinder einzurichten, weil ja doch nicht alle in Anstalten
untergebracht werden konnten. Man dürfe solche Kinder in der Schule nicht
einfach bloß abschütteln als eine schwere, untragbare Last, sondern müsse sich
ihrer in christlicher Liebe erbarmen, sie in besonderen Schulen zusammenfassen
und damit zugleich den Gesunden und Normalbegabten helfen. So ging gerade auch
von Stetten der Anstoß zur vermehrten Einrichtung von Hilfsschulen aus — zum
Segen des Landes und seiner Jugend.
Auch Strebel litt schwer
darunter, daß er so viele dringende Anmeldungen unberücksichtigt lassen mußte.
Es kam vor, daß Pfarrer oder Schultheißen deshalb behaupteten, die Anstalten
seien stets mit Absagen und Ausflüchten bereit. Es scheine, daß sie, wohl wegen
Überlastung, grundsätzlich solche Blöde, die der Armenfürsorge unterständen,
abwiesen, solange sie könnten, und daß nur, wenn für ein Kind in höherer Klasse
bezahlt würde, Aussicht auf sofortige Unterbringung bestehe.
Das war ein dummer Vorwurf, da die
Armenbehörden sogar meist mehr bezahlten als Private.
Schwer lag dem Schulrat die
Not, die allenthalben im Wachsen war, auf der Seele. So schrieb er einmal:
»Unser Volk im großen hat Millionen übrig zum Trinken, Rauchen, Festen und läßt
dabei außer anderen Hilflosen so manche Blöde im Schmutz und Elend verkommen.
Das ist auch eine Volksschuld! Wer hilft sie tilgen?«
Der glänzende Aufstieg des
deutschen Kaiserreichs verbarg nur notdürftig die schwärenden Wunden am Körper
des Volkes. Es war nicht alles Gold, was sich nach außen so glänzend gab!
Im Dezember 1905 gab Strebel
aus gesundheitlichen Gründen die Leitung der Anstalt aus den Händen.
Vielleicht war er selber
darüber krank geworden, weil so viele krank waren, denen er nicht helfen
konnte.
DIE ERDE WANKT
Man schrieb den 16. November
1911. Es war ein Herbsttag wie viele andere: kühl, grau und wolkenverhangen.
Der Abend dämmerte früh. In der Anstalt brannte in allen Stuben das neu
eingerichtete elektrische Licht. Die Heizkörper der neuen Dampfheizung
verbreiteten eine heimelige Wärme.
Auch im Arbeitszimmer des neuen
Inspektors Reischle.
Ein schweres Jahr lag hinter
ihm. Er hatte einen harten Kampf mit dem Verwaltungsrat um den Bau eines neuen
Wirtschaftsgebäudes geführt, in dem Dampfheizung, Koch- und Waschküche, Näh-
und Bügelzimmer, ja sogar die Bäckerei für die Anstalt untergebracht werden
sollten. Ein kühner, weitschauender Plan des jungen, tatkräftigen Inspektors —
aber der Verwaltungsrat hatte ihn nicht genehmigt. Schon jetzt sei die Schuldenlast
der Anstalt zu groß, meinte er. Die Heizungsanlage mußte im Schloß eingerichtet
werden, ebenso Wasch- und Kochküche mit Dampfbetrieb.
Tiefe, lange Gräben hatten
wochen- und monatelang die weiten Anstaltshöfe durchzogen; Röhren, Backsteine
und anderes Baumaterial türmten sich daneben, und ein unvorstellbarer Schmutz
wurde in dem regnerischen Sommer und Herbst aus den aufgerissenen Wegen und
Plätzen in die Gänge und Zimmer der Häuser getragen. Die alten, großen Kamine
mußten in den Stuben und Sälen abgetragen, durch die meterdicken Wände die
Durchbrüche für die Heizkanäle und Heizrohren gemacht werden, und zugleich
wurden neue Aborte eingerichtet.
Noch ehe die neue Heizung in
Betrieb genommen werden konnte, kam ein kalter, rauher Herbst, so daß man als
Notbehelf in den offenen Häusern wandernde Erdölöfen aufstellen mußte. Endlich,
am 24. September, konnten die Heizkessel angefeuert werden. Allmählich wich das
allgemeine Chaos einer wohltätigen Ordnung und Sauberkeit, und wenn es auch
manchmal fast über die Kraft und Geduld des Pflegepersonals gegangen war: es
kam der Tag, wo die Not des Einreißens und Wiederaufbauens beendet war, an dem
die ganze Anstaltsfamilie aufatmete und ein Loblied nach dem andern sang.
Für die meisten der Kinder und
Pfleglinge war es freilich auch eine hochinteressante Zeit gewesen. Was hatte
es da nicht alles zu sehen gegeben!
Doch zu keiner Zeit war der
Wechsel von Pflegern und Pflegerinnen so groß gewesen wie in diesen drangvollen
Monaten. Sie waren einfach der Unordnung und dem Schmutz davongelaufen, ohne
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