Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
Herzen über das Wort:
»Wir haben einen Herrn, der vom Tode errettet!«
Anderwärts waren die Menschen
aus den Wirtshäusern auf die Straße geeilt, hatten in panischer Flucht aus
Theatern und Konzerten gedrängt, mit Mänteln und Decken ins Freie sich gerettet
und die Nacht frierend in Feldern und Wäldern zugebracht. Millionen waren
aufgescheucht. Ein Erdstoß hatte genügt, ihnen zu zeigen, wie unsicher und
wankend die Erde sei, auf der sie sich eingerichtet hatten, als müßte sie ewig
bestehen. Doch die Schwachsinnigen schliefen, unberührt von allem, ihren tiefen
Schlaf! Aber auch für sie sollte es einmal ein schreckliches Erwachen geben, in
einer wahrhaft ägyptischen Finsternis, wo sie in ihrer Todesangst keinen Ausweg
mehr sehen würden! Das Erdbeben war wie ein erstes Signal vor kommendem Unheil.
Die Wenigsten wollten es zugeben, aber heimlich sprach es sich doch herum, daß
es ein Zeichen gewesen sei und daß die Menschen sich von jetzt an auf vieles
gefaßt machen müßten.
Drei Jahre später brach der
erste Weltkrieg aus. Am Pfingstfest 1914 hatte der neue Inspektor Sick seine
Antrittspredigt gehalten, nicht ahnend, wie bald die Welt ins Wanken geraten
würde.
Von den 66 männlichen
Angestellten mußten 20 zu den Waffen einrücken, Lehrer und Pfleger, aber auch
der Hausarzt, dessen Arbeit während des Krieges zunächst vom Endersbacher Arzt
übernommen wurde.
In der Anstalt wurde für die
Ausmarschierten und das Rote Kreuz genäht und gestrickt; einmal in der Woche
beteten die Daheimgebliebenen in der Kapelle für ihre fernen Brüder; die Kinder
sangen unbekümmert: »In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn«.
Bald meldeten sich die Sorgen
und flössen die Tränen, wie sie jeder Krieg unerbittlich mit sich bringt. Die
Preise für die Lebensmittel zogen an, die freiwilligen Spenden für die Anstalt
gingen zurück. Im Lauf des Sommers 1915 verminderte sich bei vielen Pfleglingen
das Körpergewicht merklich.
Von Kriegsjahr zu Kriegsjahr stieg
die Not. Im Oktober 1916 hatte man einmal nur noch für drei Tage Kartoffeln,
und wenn die Beamten der Landeskartoffelstelle nicht Verständnis gezeigt
hätten, wäre es zu einer Katastrophe gekommen. Ein Segen, daß es in diesem
Herbst eine überreiche Ernte an Äpfeln und Birnen gab!
Die Brotrationen wurden zum
Erbarmen klein, das Körpergewicht sämtlicher Anstaltsinsassen nahm weiter ab,
die Sterblichkeit unter den Alten und Kranken war höher denn je.
Im Herbst 1917 tauchte ein
neues Sorgengespenst auf: die Kohlennot. Bis zum 21. Oktober sparte man die
Heizung überhaupt, und von da an gab es vor- und nachmittags nur noch eine
Stunde Dampf in die Heizkörper. Schon fingen die Unzufriedenen an, sich nach
den alten Kohlenöfen zu sehnen, denn ein warmes Essen und ein warmes Bett waren
ein schlechter Trost für den langen Tag.
Eines Morgens hieß es: Noch
drei Tage, dann können wir weder heizen noch kochen!
Der Inspektor rief den
Vorsitzenden des Verwaltungsrats an, einen hervorragenden Mann, der für alles
Verständnis hatte. Auch an diesem kritischen Morgen ließ er den Inspektor nicht
im Stich. Schon eine Stunde später kam die telefonische Nachricht: »Die
Generaldirektion der Eisenbahnen gibt der Anstalt leihweise einen
Eisenbahnwagen mit Koks ab. Morgen kann er in Endersbach ausgeladen werden.«
Das Jahr 1918 begann dunkel.
Im Januar brach in
Rommelshausen Typhus aus.
Im Juli wurde Stetten von der
Grippewelle erfaßt, die im Oktober mit doppelter Gewalt zurückkehrte. Der Tod
hielt in diesem Jahr des Unheils eine reiche Ernte.
Im Sommer 1916 hatte irgendwo
in Deutschland eine verzweifelte Mutter ihr eigenes schwachsinniges Kind mit
einem Jagdgewehr erschossen, um es, wie sie sagte, von seinen Leiden zu
erlösen. Sie wurde des Totschlags angeklagt, aber vom Schwurgericht freigesprochen.
Eine Zeitung versah diesen Freisprach mit der Überschrift: »Ein vernünftiges
Urteil«.
Der Inspektor, der während des
Krieges für das Leben von Hunderten fremder, schwachsinniger Kinder die
Verantwortung zu tragen hatte, fragte sich angesichts dieses Urteils: Wohin
sind wir geraten? Darf eine Mutter ein »unbrauchbares« Menschenkind, das nur
eine Last für sich und seine Umgebung ist, ein unnötiger Esser in der
Kriegszeit, ein Gegenstand der Sorge und der Demütigung — einfach erschießen?
Ist es nicht, trotz allem, Fleisch von ihrem Fleisch, durch das Band der Liebe
gerade in seiner Hilflosigkeit mit ihr verbunden? Hat sich die
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