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Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Titel: Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Teufel
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Mutter dadurch
wirklich Erleichterung verschafft? Wird sich nicht in einem hellen Augenblick
ihr Gewissen erheben und sie der Schuld anklagen, daß sie ihr eigenes Kind
getötet hat, aus reiflicher Überlegung, nicht bloß in einer augenblicklichen
Aufwallung? Wer wird sie dann freisprechen? Es gibt keinen Menschen, der sie
freisprechen könnte, weil kein Mensch das Recht hat, ein von Gott geschaffenes
Leben auszulöschen, auch wenn dieses Leben scheinbar keinen Sinn hat.
    Aber wurde nicht in jenen
Jahren unendlich viel wertvolles Leben vernichtet — was galt da das Leben eines
blöden Kindes?
    Der Inspektor wußte wohl, daß viele
so dachten, wie jene Zeitung schrieb. Er hatte in diesen vier Kriegsjahren oft
genug solche Stimmen gehört. Es war das einfachste, so zu denken. Aber er hatte
dem immer entgegengehalten: Habt ihr schon darüber nachgedacht, daß in Gottes
Augen auch ein scheinbar wertloses Leben allein schon deshalb wertvoll ist,
weil es Kräfte der Liebe und Barmherzigkeit entbindet, die sonst verkümmern?
Gottes Wille war, daß man das Schwache pflegte und rettete und sich eben darin
bewährte, mochte die Not noch so groß sein.
     
    Sie wurde nicht kleiner in den
nächsten Jahren.
    1919 rechnete der Inspektor den
Gemeinden vor: Kartoffeln, Kohlen, Stiefel, Kleider kosten ein Vielfaches
gegenüber den Preisen von 1914. Aber nicht bloß die Preise für Nahrung,
Kleidung, Heizung steigen beständig, sondern auch die Gehälter für die
Angestellten. Um die Herbsteinkäufe machen und die Gehälter bezahlen zu können,
müssen wir eine Schuld aufnehmen, deren Höhe bis jetzt noch niemand von uns
voraussehen kann. Darum: Helft uns helfen!
    Die dankbare Frau im
Schwarzwald lebte noch immer! Alle Jahre hatte sie 5,20 Mark — 10 Pfennig für
jede Woche — geschickt. Aber am 26. Juli 1919 kam ein Brief von ihr angeflogen:
»Da gegenwärtig alles so teuer ist, tue ich die Gabe verdoppeln!« Sie schickte
also nun 10,40 Mark. Vor 35 Jahren war ihr Kind in der Anstalt gestorben, sie
selbst war inzwischen 71 Jahre alt geworden — aber ihre Dankbarkeit war nicht
erlöschen.
    Es war nur ein Zeichen für
viele. Die Gemeinde hörte den Ruf. Der Inspektor atmete auf. Gott würde
durchhelfen; die Anstalt konnte sich darauf verlassen.
    Er selbst aber durfte nun einen
Ruf als Klinikpfarrer nach Tübingen annehmen.
    Sein Nachfolger, Pfarrer Dr.
Kieser, machte sich keine Illusionen über die Schwere des Amtes, als er es am
26. September
    1920 mit den Worten: »Ich bin
bereit« übernahm.
    Der Winter stand vor der Tür,
und Kohlen waren keine da. Es blieb nichts anderes übrig als die Heizungskörper
zu entfernen und wieder Kohlenöfen zu setzen, wenn Kranke und Kinder mitsamt
dem Personal nicht noch einmal einen Winter lang frieren sollten. Um die Kosten
zu decken, mußte man sogar die alten Heizkörper verkaufen. Es fehlte an
Mitteln, um den Viehbestand der Anstalt zu ergänzen. Die Gehälter der
Angestellten hielten mit der Geldentwertung nicht mehr Schritt. Nicht umsonst
sagte der neue Vorstand des Verwaltungsrates in seiner Begrüßungsansprache:
»Mit furchtbarem Ernst steht die Zukunft vor uns. Nicht nur die äußeren Güter
sind verloren und gefährdet, auch was uns bisher als das höchste Irdische galt,
das Vaterland mit allen Kulturwerten, die es in sich schloß, ist
zusammengebrochen, sein Schicksal in Dunkel gehüllt, und, was noch schlimmer
ist, weite Kreise unseres Volkes sind von einem Geist wilder Verblendung und
Zuchtlosigkeit, rücksichtsloser Gewinn- und Genußsucht erfaßt.«
    Mitten in dieser turbulenten
Zeit — am 4. September 1921 — wurde das Jahresfest der Anstalt, zum erstenmal
wieder nach 12 Jahren, feierlich begangen.
    Wie hatten sich inzwischen die
Zeiten geändert! Die Kinder wußten nicht mehr, was ein Jahresfest sei, und
verwechselten es mit dem Adventsfest. Ein kleiner Bub wollte sich an diesem Tag
in die Kapelle führen lassen, um die Weihnachtskrippe zu sehen.
    Wie einst strömten die Gäste in
die Turnhalle, um Gott für alle Durchhilfe in den letzten schweren Jahren zu
danken.
    Aber die Ausgaben kletterten
von Million zu Million, die Kaufkraft des Geldes sank tiefer und tiefer, der
Opferwille der Gemeinde verlor den Atem in diesem Wettrennen.
    Sollten die Anstalten der
freien Liebestätigkeit sterben? Schon ging das Gerücht, Stetten sei schwer
gefährdet, und am i. August 1922 trat ein sehnlichst erwarteter neuer
Pfleger seine Stelle nicht an, weil er in Stuttgart gehört haben wollte,

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