Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
daß
Stetten seinen Betrieb bald einstellen müsse.
In allen Anstalten im ganzen
Reich die gleichen Nöte, Sorgen, Schwierigkeiten! Staat und Städte streckten
schon ihre Hände aus, um der Anstalten habhaft zu werden. Die steigenden
Pflegesätze entleerten die Häuser. Es fehlte nicht nur das Geld, es fehlten die
Menschen. Geldund Genußsucht griffen überall um sich, auch in Kreisen, die
bisher gewußt hatten, was christlicher Liebesdienst sei. Eine Anstalt wie
Stetten konnte keine Löhne bezahlen wie irgendein Industrieunternehmen. Auf
offener Straße, in der Eisenbahn wurde versucht, die Mitarbeiter durch das
Angebot höheren Lohnes abspenstig zu machen. Jetzt mußte sich die Treue
bewähren.
Ein Pfleger feierte in diesen
Tagen sein 25jähriges Dienstjubiläum. Der Hausvater sagte zu ihm:
»Heute wärst du vielleicht Millionär,
wenn du damals in deinem Betrieb geblieben wärst.«
Der Wackere antwortete:
»Manchmal träumt’s mir, ich stehe noch in der Fabrik, aber wenn ich aufwache,
danke ich Gott, daß ich hier bin.«
Es kam das schlimmste aller
Nachkriegsjahre: 1923.
Jetzt schrumpften Gehälter und
Löhne, bis sie ausbezahlt werden konnten, in Nichts zusammen; eine Tablette
Luminal kostete so viel, wie ein Verpflegungstag Geld einbrachte. Infolge
mangelnder Ernährung griff die Tuberkulose tim sich, die Zahl der Todesfälle stieg
wieder an. Der Bestand der Pfleglinge sank infolge zahlreicher Austritte, weil
das Kostgeld unerschwinglich geworden war.
Abermals schien die Erde zu
wanken, aber Stetten fiel nicht. Es feierte am 25. Mai 1924 sein 75jähriges
Bestehen. Mit dankbarem Herzen stellte der Inspektor seinen Jahresbericht unter
das Wort: »Der Herr hilft den Elenden herrlich!«
Die Vögel, die das unsichere
Nest in der Stunde der Not verlassen hatten, kehrten wieder zurück; binnen
Jahresfrist wuchs die Zahl der Pfleglinge wieder auf über 500 an. Es ging
wieder aufwärts.
Im Juni 1928 verreiste der
Inspektor zu einer Konferenz der Vorsteher der Heil- und Pflegeanstalten für
Schwachsinnige und Epileptische, die in Bad Kreuznach stattfand. Auf dieser
Tagung sollte u. a. über den Konfirmandenunterricht für Schwachsinnige
verhandelt werden.
Am zweiten Vormittag erhielt
der Inspektor ein Telegramm: »Wegen Brandfall sofort nach Hause kommen.«
Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor,
bis er abends um 9 Uhr endlich in Stetten ankam. Es roch nach Rauch und Brand,
obwohl das Feuer längst gelöscht war. Schon unterwegs erfuhr er von seiner
Frau, was geschehen war: Frühmorgens um ¾ 5 Uhr hatten Arbeiter, die zur Bahn
gingen, das Feuer bemerkt und gemeldet. Ehe man sich recht besann, hatte man
schon die Flammen aus dem Dachstock des Schulhauses schlagen sehen.
»Schulhaus, sagst du? Und die
Bäckersleute, und der Heizer mit seiner Frau und seinen Kindern?«
»Sind alle gerettet. Wir haben
sie einstweilen bei uns im Schloß und im Mädchenhaus untergebracht. Gottlob ist
nur der Dachstock abgebrannt. Wir haben sofort die Feuerwehr in Stetten und
Waiblingen alarmiert. Sie sind auch schnell gekommen, so daß das Feuer rasch
eingedämmt wurde. Ein Glück, daß es schon Tag war. Die Kinder wurden unruhig,
sie fingen zu schreien an. Einige Epileptische bekamen Anfälle. Es war ein
ziemliches Durcheinander.«
»Aber die Leute, die zur
Feuerwehr eingeteilt sind, waren doch auf dem Posten?«
»Freilich, aber im Ernstfall
ist halt alles anders. Da geht’s nicht so am Schnürchen wie bei der Probe.
Manche verloren den Kopf. Das Schulhaus ist hoch, wir hatten keine so hohen
Leitern. Bis bloß die Schläuche gelegt waren! Ich war selber erst ruhig, als
die Waiblinger kamen und den ersten Wasserstrahl ins Feuer schickten. Das ging
wie der Wind.«
»Und wie ist’s entstanden?«
»Der Heizer ist heute morgen um
halb fünf Uhr wie immer aus dem Haus gegangen und hat nichts bemerkt. Wir
vermuten, daß es ein Kurzschluß war.«
Als sie im Schloßhof ankamen,
waren schon überall die Lichter gelöscht. Im Schulhaus war eine Feuerwache
eingerichtet. Der Inspektor besuchte noch die Familien, die alles verloren
hatten, ließ sich von ihnen erzählen, wie schnell es gegangen war, so daß sie
nur das nackte Leben retten konnten. Er versprach ihnen, dafür Sorge zu tragen,
daß sie so bald als möglich wieder in ihre neuaufgebauten Wohnungen einziehen
dürften.
Vor dem Einschlafen sagte er zu
seiner Frau, die ihn so tapfer vertreten hatte: »Beim Propheten Amos heißt’s: ›Ist
auch ein Unglück in der Stadt, das
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