Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
sagte der, »dr Schulrat
hot kei so tiefe Stimm, des war dr Herr Lauffer«, womit er den neuen Lehrer
meinte, der erst seit August in der Anstalt war.
Der Schulrat legte großen Wert
auf einen möglichst anschaulichen Unterricht. So stellte etwa in der Biblischen
Geschichte der Federkasten, der in einem Waschbecken schwamm, die Arche Noah dar,
oder man entfesselte im Waschbecken den Sturm auf dem Meer.
Die verschiedenartigsten
Werkzeuge und Tätigkeiten konnten den Kindern in den eigenen Werkstätten
gezeigt werden: bei den Bäckern, den Schneidern, den Schuh- und Korbmachern,
den Schreinern. Alle ländlichen Geräte und Arbeiten lernten sie im Kuhstall, in
der Scheuer und auf dem Feld kennen. Aus Papier schusterten sie einen Stiefel
zusammen und lernten dabei die Bezeichnungen der einzelnen Teile. Sie gingen
zum Schmied ins Dorf und sahen ihm bei seiner Arbeit zu, sie beobachteten auf
ihren Spaziergängen Regenwürmer und Marienkäfer, Schnecken, Spinnen und tote
Bienen. In Blumentöpfe wurde Samen gesät, er wurde begossen und das Keimen
gezeigt, aus dem Schulbeet wurde der Salat geholt, zubereitet und in der Schule
verspeist.
Der Schulrat erkannte auch die
Bedeutung des Lichtbilds für den Unterricht. Hier wurden die »Vertreter des
Tierreichs« ebenso wie die »Wunder der Sternenwelt« gezeigt, oder es wurde den
Kindern das menschliche Auge von innen her sichtbar gemacht. Aber auch »Luthers
Leben« zog in Bildern an ihnen vorüber. Südafrika wurde ihnen vorgeführt, als
der Burenkrieg ausbrach, oder das »Reich der Mitte«, als der Boxeraufstand in
China von sich reden machte.
Eines Tages rief der Schulrat
kurz vor Weihnachten seinen Konfirmandenjahrgang in das Zimmer, in dem eine
Lehrmittel Sammlung aufgebaut wurde, und zeigte ihnen einen großen Sandstein,
der aus dem Schwarzwald stammte.
»Dieser Stein«, so erzählte der
Schulrat, »war irgendwo im Schwarzwald in einem engen Tal von einem Felsen
abgebröckelt und auf den Weg gefallen. Eines Tages, kurz vor Weihnachten, ging
ein zehnjähriger Bub mit seinem sechsjährigen Schwesterchen durch das Tal. Die
Kinder hatten sich bei einer Tante das ›Christkindle‹ geholt und waren auf dem
Heimweg. Die Tante hatte ihnen Backwerk mitgegeben. Der Bub hatte das seine
schon aufgegessen und verlangte nun vom Schwesterchen, es solle ihm von seinem
Backwerk abgeben. Die Kleine aber wollte nicht, fing an zu weinen und hielt
ihre Tüte fest. Da wurde der Bruder zornig. Er schrie die Schwester an, wenn
sie ihm nichts gebe, schlage er sie tot. Da bekam das Schwesterchen Angst und
wollte davonspringen; aber der Bub war schneller als sie, er sprang voraus,
ergriff den Stein, hob ihn auf und warf ihn mit aller Kraft auf sein
Schwesterchen. Der Stein zerschmetterte ihr den Kopf, sie fiel zu Boden und
starb. Der Bub aber nahm das Backwerk, aß es auf und ging nach Haus. Der Mutter
erzählte er, die Schwester sei ihm davongesprungen, er wisse nicht, wo sie sei.
Inzwischen war es schon dunkel geworden, und der Vater machte sich mit ein paar
Männern auf, um sie mit Laternen zu suchen. Da fanden sie das Kind auf dem Weg,
tot unter dem Stein liegen. Der Vater trug es auf den Armen nach Haus, und die
Männer nahmen den Stein mit, der sie offenbar getötet hatte.
Der Vater wußte wohl, daß sein
Sohn ein böser Bub war, und fragte ihn, wie das zugegangen sei. Anfangs wollte
er leugnen, aber schließlich gestand er alles. Am andern Tag kam die Polizei
und nahm ihn mit. Er wurde in eine Besserungsanstalt gebracht, wo man sehr
streng gegen ihn ist. Das war das traurigste Christfest, das die Eltern je
erlebt hatten.
Da könnt ihr sehen, was der
Zorn anrichtet«, schloß der Schulrat seine Geschichte. »Deshalb habe ich euch
diesen Stein gezeigt. Und wenn eines von euch zornig werden und zuschlagen
will, dann denket an den Stein!« Voll Scheu betrachteten ihn die Kinder, und
keines sprach ein Wort. In der nächsten Konfirmandenstunde brachte ein Bub
seine Tafel mit. Er hatte darauf den Stein gemalt und darunter geschrieben: »Du
sollst nicht töten!«
Der Schulrat nickte. »Aber ihr
müßt es nicht nur auf die Tafel schreiben, sondern in euer Herz!«
Das Traurigste an dieser
Geschichte aber konnte der Schulrat den Kindern nicht erzählen. Der Bub war
schwachsinnig und hätte schon längst nach Stetten gebracht werden sollen. Aber
die Eltern waren zu arm, um die Kosten aufzubringen. Und obwohl man im ganzen
Dorf wußte, wie es um den Buben stand, der keine Schule besuchte und
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