Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
sich hier durchzwängen. Er kam zu Fuß bis Stuttgart und
landete abermals im Polizeipräsidium.
Nun konnte der Inspektor die
Verantwortung nicht länger auf sich nehmen. August wurde in eine geschlossene
Anstalt gebracht. Er gehörte zu denen, die nicht fähig waren, das »wunderbare Etwas«
der Stettener Luft zu verspüren.
Wie ganz anders war Frida davon
berührt, die vierzehn Tage nach ihrer Aufnahme den Eltern nach Hause schrieb:
»Teile euch mit, daß es mir soweit gut geht. Was macht Vater und Mutter? Es ist
schön hier, nur habe ich ein wenig Heimweh nach Euch, meine geliebten Eltern.
Wir machten schon zwei Ausflüge. Das ist ja meine Freude, in den Wald und Berg
zu steigen. Es ist einfach herrlich, hier zu sein. Muß Euch leider mitteilen,
daß ich gar nicht mehr heim möchte. Ich vergesse hier ganz mein körperliches
Leiden und lebe auf. Am 29. September ist hier Jahresfest, das wird schön mit
Aufführungen, da möchte ich Euch als meine lieben Eltern auch am Tor begrüßen.
Es grüßt Euch alle recht herzlich Eure Frida.«
Dreizehn Jahre war Lise schon
in Stetten, aber sie war noch nie daheim im Urlaub gewesen. Kurz, nachdem sie
mit zwölf Jahren in der Anstalt hatte untergebracht werden müssen, war ihre
Mutter gestorben. Manche meinten, das Herz sei ihr gebrochen, weil sie ihr
jüngstes Kind, auf dringendes Anraten des Arztes, hatte fortgeben müssen. Aber
das war nicht der einzige Grund. Der Vater war ein Trinker, Frau und Kinder
lebten in ständiger Angst vor ihm, und als Lise ihre Anfälle bekam, wollte er
sie nicht mehr zu Hause behalten.
In all den langen Jahren hatten
weder er noch die Stiefmutter das Mädchen je besucht. Ab und zu sahen
wenigstens ihre älteren Geschwister nach ihr. Aber wenn andere glückselig nach
Hause in Urlaub fuhren, kam sich Lise ganz verlassen vor.
Ihre älteste Schwester, die
verheiratet war und im elterlichen Haus wohnte, wußte gut, daß Lise keinen
sehnlicheren Wunsch hatte als den, nach dreizehn Jahren wieder einmal ihre
Heimat zu sehen, in der sie aufgewachsen war. Als die Schwester nun wieder
einmal am Jahresfest im Juli teilgenommen hatte, versprach sie ihr fest, sie an
Weihnachten einzuladen. Seitdem zählte Lise die Monate, Wochen und Tage, bis
ihr großer Wunsch in Erfüllung gehen würde. In der Anstalt freuten sich alle
mit ihr, daß auch sie einmal an Weihnachten verreisen dürfe.
Aber wie erschrak der
Inspektor, als er Mitte Dezember einen Brief von Paula — so hieß die älteste
Schwester — erhielt, in dem sie der »verehrlichen Anstaltsleitung« mitteilte,
daß es ihr leider nicht möglich sei, ihr Versprechen, das sie ihrer Schwester
gegeben habe, zu erfüllen. Als Grund gab sie an, daß sie selbst und ihr Mann
tagsüber im Geschäft seien und ihre Schwester deshalb ohne Hilfe sei, wenn sie
einen Anfall bekomme. Auch hätten sie nach nochmaliger reiflicher Überlegung
festgestellt, daß es ihnen in ihrer kleinen Wohnung an Platz fehle, um ihre
Schwester unterzubringen.
Am liebsten hätte ihnen der
Inspektor geschrieben, ob sie das nicht schon vorher gewußt hätten, und daß es
doch ein Unrecht sei, der Schwester ein Versprechen zu geben, von dem man zum
voraus wisse, daß man es nicht halten könne. Aber er ahnte, daß es in
Wirklichkeit ganz andere Gründe waren, um deretwillen der Besuch der Schwester
unerwünscht war. Paula hatte nämlich der Stiefmutter gegenüber gelegentlich
geäußert, daß sie ihre Schwester zu Weihnachten einladen wolle. Da hatte ihr
diese eine Szene gemacht und geschrien, daß sie das unter keinen Umständen
dulde; im Notfall werde sie die »Person« — so nannte sie die Kranke immer — mit
Hilfe der Polizei wieder dahin bringen lassen, wo sie hingehöre. So wagte es
Paula nicht, auf ihrem Vorhaben zu bestehen, noch dazu in der Weihnachtszeit,
wo sie nicht ständig Händel und Streit im Haus haben wollte.
Es war für den Inspektor keine
leichte Aufgabe, Lise klarzumachen, daß eine Heimreise an Weihnachten nicht
möglich sei. Sie war untröstlich, obwohl ihr die Schwester ein Weihnachtspaket
schickte und dazu einen Brief schrieb, in dem sie sie auf den Sommer
vertröstete. Lises Anfälle häuften sich, und es dauerte Wochen, bis sie sich
beruhigt hatte. Heimlich nagte der Schmerz an ihr weiter, die Widerstandskraft
ihres Körpers ließ nach, ihr Zustand wurde immer labiler. Als ihre Schwester
sie im Frühjahr einmal besuchte, erschrak sie über ihr Aussehen und nahm sich
vor, ihre Einladung so bald als
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