Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
möglich wahr zu machen.
Mitte Juli war es soweit. Sie
hatte erfahren, daß die Mutter in dieser Zeit für vier Wochen zu Bekannten
verreisen wolle, und hoffte, den Vater zu bewegen, daß er keine Schwierigkeiten
mache. Sie schrieb also dem Inspektor, daß nun endlich Lise zu ihnen in Urlaub
fahren könne. Er solle ihr aber noch nichts davon sagen, damit sie sich nicht
zu sehr freue und die Hoffnung auf die Reise sie nicht unnötig aufrege. Ihr
Mann werde sie abholen, den genauen Termin teile sie mit.
Aber da traf vorher noch ein
gehässiger Brief der Mutter ein. Sie schrieb, angeblich im Auftrag ihres
Mannes, Lise dürfe auf keinen Fall zu ihren Geschwistern in Urlaub kommen.
Solange ihr Mann lebe, werde er dazu niemals seine Einwilligung geben, und ihre
Geschwister hätten kein Recht, sie zu sich einzuladen. Der Briefwechsel
zwischen den Geschwistern müsse unter allen Umständen aufhören. Dadurch
entstehe nur Streit in der Familie, den sie allein zu büßen habe. Sie bitte
innerhalb dreier Tage um Bescheid, daß man ihrem Verlangen Rechnung trage,
andernfalls würden sie und ihr Mann gerichtliche Schritte gegen die Geschwister
und gegen die Anstalt einleiten — »betreffs Urlaub und sonstiger
Korrespondenz«.
Die Antwort des Inspektors kam
prompt, klar und bündig. Da Lise nicht entmündigt sei, könnten weder die
Anstalt noch ihre Eltern ihr verbieten, ihren Urlaub zu verbringen, wo immer
sie wolle, und er könne ihr auch nicht verbieten, zu ihrer Schwester zu gehen.
Er habe ihr aber gut zugeredet
und sie gebeten, solange der Vater lebe, davon abzusehen, um unnötigen Streit
und Händel zu vermeiden, und sie habe sich, wenn auch erst nach hartem Kampf,
entschlossen, um ihrer Eltern willen auf den Urlaub zu verzichten.
Er wundere sich freilich sehr
darüber, daß sie in keiner Weise daran dächten, wie schwer es für das Mädchen
sei, auf ihren ersten Urlaub innerhalb von dreizehn Jahren zu verzichten,
während andere jedes Jahr einmal nach Hause fahren dürften. Er könne nicht
verstehen, daß sie ihr die Erfüllung dieses Wunsches vereitelten. Sie würden
schwer daran tun, die Tränen und bitteren Schmerzen zu verantworten, die sie
ihr dadurch angetan hätten.
Auch Lise schrieb an ihre
Schwester: »Meine liebe Schwester! Vor allem, wie geht es Euch? Ich hätte so
gerne bei Euch in der Heimat meine Ferien gehalten, aber leider hat mich alles
von meinem Vater so gedrückt, daß ich schon oft an meine verstorbene liebe
Mutter gedacht habe und so geweint habe. Denkt unser Vater nicht, du sollst
niemals jemand wegwerfen, besonders seine Kinder und auch noch mich, wo ich so
ein Kreuz zu tragen habe? Aber das verzeiht ihm der liebe Gott auch nicht mehr.
Denn wer seinen Bruder nicht liebet, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den
er nicht sieht!... Ich habe schon ganz gut herausfinden können, daß unser Vater
mich nicht mehr gern sieht, sonst hätte er mich in den dreizehn Jahren, wo ich
schon in der Anstalt bin, wenigstens schon einmal besucht. So hat mir noch
nichts weh getan als wie dieser Kummer von der Heimat, und habe schon so viel
wegen den Nachrichten geweint, und wenn man so gerne einmal in Ferien wäre und
steht ganz von Euch verlassen da. Aber der liebe Gott kann alles wenden. Ich
schließe nun mein Schreiben und wünsche Euch von Herzen alles Gute und ein
frohes Wiedersehen. Eure dankbare Schwester
Lise.«
Es hätte dieses rührenden
Schreibens nicht mehr bedurft, um die Geschwister zu veranlassen, ihren Willen
durchzusetzen und die kleine Schwester einfach aus der Anstalt abzuholen, ohne
Rücksicht auf den Haß der Eltern.
Wohl schaltete sich der
Inspektor mit Rücksicht auf die Krankheit des Mädchens, dem er alle sicher zu
erwartenden Aufregungen ersparen wollte, noch einmal ein, aber er stellte es
Lise frei, sich selbst zu entscheiden. Um des Friedens willen war sie bereit, noch
einmal zu verzichten, so schwer es ihr fiel.
Als jedoch der Schwager kam, um
sie mitzunehmen, konnte sie nicht wiederstehen, und auch der Inspektor wollte
es nicht hindern. Doch hielt er es für notwendig, ihr einen Brief an ihre
Eltern mitzugeben, in dem er sie bat, für sich zu bleiben und sich um Lise
nicht zu kümmern, wie auch Lise für sich bleiben, sie nicht belästigen und ihre
Wohnung nicht betreten wolle. Er sehe nicht ein, warum aus diesem Urlaub Streit
entstehen solle, wenn sich alle an diese Abmachungen hielten.
So kam denn Lise glückstrahlend
bei ihrer Schwester
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