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Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Titel: Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Teufel
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Pfleglinge, die noch
durchaus arbeitsfähig und geistig intakt sind, es sind sogar Kriegsteilnehmer
aus dem ersten Weltkrieg darunter. Das kann man nicht anders als Mord nennen,
Mord von Staats wegen. Mit der Sterilisation hat’s angefangen, dann kam der
Angriff auf das keimende Leben und jetzt dies. Es ist eine folgerichtige Linie,
die von Gottes und Rechts wegen unweigerlich in den Abgrund führt.«
    »Wir müssen uns klar darüber
sein, daß irgendwelche Gründe christlicher Moral den Machthabern gegenüber gar
nicht verfangen«, erwiderte der Inspektor. »Im Notfall müssen wir die
Angehörigen benachrichtigen und sie um Abholung ihrer Kranken bitten. Ich
schlage vor, wir fahren alle drei nach Stuttgart und gehen zuerst zum
Reichsstatthalter, und wenn wir dort nicht vorgelassen werden, auf das
Innenministerium. Unser nächstes Ziel muß sein, ein allgemeines Verbot dieser
entsetzlichen Transporte zu erreichen.«
    »Schon um unserer Kranken
willen«, sagte der Lehrer; »sie kommen ja aus der Angst nicht mehr heraus. Unsere
Marie läuft den ganzen Tag in der Anstalt herum, zitternd am ganzen Leib vor
Angst und Aufregung und schreit: ›Hinmachen wollen sie uns. Die Korker haben
sie auch hingemacht!‹«
     
    So fuhren die drei am anderen
Tag nach Stuttgart und versuchten zuerst beim Reichsstatthalter anzukommen.
Aber der Adjutant ließ sie gar nicht vor. Er versprach nur, die Sache dem
Reichsstatthalter zu unterbreiten.
    Der Referent im
Innenministerium, ein Ministerialrat, zu dem sie nun gingen, behauptete, ihre
Befürchtungen seien völlig grundlos, den Kranken werde kein Haar gekrümmt, sie
würden vielmehr aufs beste versorgt. Log er oder wußte er wirklich nichts vom
wahren Sachverhalt? Er ließ seinen Berichterstatter, einen Obermedizinalrat,
kommen, der erklärte, Befehl sei Befehl und müsse durchgeführt werden! Der neue
Staat sei ein Staat der Ordnung und der Disziplin, die Zeiten seien vorüber, wo
jeder machen könne, was er wolle. Außerdem sei jetzt bekanntlich Krieg, und da
dürfe weniger als je irgend jemand aus der Reihe tanzen.
    »Wir sind der Ansicht«,
erwiderte ihm der Inspektor, »daß es darauf ankommt, ob man es verantworten
kann oder nicht, einen Befehl auszuführen. Ich komme von der Front und weiß,
daß ich als Offizier einen Befehl nicht ausführen darf, der falsch oder verkehrt
oder gar verwerflich ist. Man würde mich mit Recht zur Verantwortung ziehen und
mich einen dummen Rekruten schelten, wenn ich unter allen Umständen nach Ihrem
Rezept handeln wollte.«
    Dem Obermedizinalrat blieb der
Mund offen. Feindselig starrte er den Inspektor an. Schließlich stieß er
hervor: »Front hin, Front her — wir sind hier in der Heimat und haben zu tun,
was uns befohlen wird. Ich warne Sie, der Front in den Rücken zu fallen.«
    »Darum geht es ja gar nicht«,
wollte der Arzt noch sagen, aber der Ministerialrat erhob sich und schnitt
damit das Gespräch ab. »Ich danke den Herren.« Er verbeugte sich. Sie waren
verabschiedet.
    So sah es also in Stuttgart
aus!
    Die drei Männer beschlossen,
für alle Fälle schriftlich zu protestieren, obwohl es gefährlich war, den
Behörden etwas Schriftliches zu geben, und es unter allen Umständen vermieden
werden mußte, daß man dem Staat eine Handhabe bot, die Leitung der Anstalt zu
beseitigen. Es wäre ja nicht das erstemal gewesen, daß irgendwelche gefügige
Kommissare eingesetzt wurden, und man hätte den Kranken damit einen schlechten
Dienst erwiesen; wenn man sie der Willkür unwissender und liebloser Menschen
preisgegeben hätte. Man mußte sich also jedes Wort genau überlegen und
versuchen zu retten, was zu retten war.
    So schrieb denn der Inspektor,
die angekündigten Maßnahmen seien durch kein Gesetz gedeckt. Er sei also als
Staatsbürger (vom »Christen« schwieg er aus gutem Grund) verpflichtet, sich an
einer ungesetzlichen Handlung nicht zu beteiligen, ja, ihr sogar Widerstand
entgegenzusetzen. Er könne die Kranken nicht einer privaten GmbH ausliefern, es
sei denn, daß er durch polizeiliche Gewalt dazu gezwungen werde.
    Schon am Tag darauf kam der
telefonische Anruf: »Irrige Rechtsauffassung — Reichsverteidigungskommissar
durch Gesetz zur Verlegung ermächtigt — GmbH staatliches Vollzugsorgan —
Saboteure erwartet strengste Bestrafung.« Und die Krone des Ganzen: die Leitung
der Anstalt könne froh sein, daß ihr der Staat die Verantwortung abnehme.
Mindestens die Hälfte der Kranken müsse beseitigt werden.
    Nun war die Lage klar.

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