Das Schloss der tausend Sünden
friedlich zu schlafen. Es wäre eine Schande gewesen, ihn einfach so ohne Grund zu wecken.
«Er muss die Ruhe wohl nötig haben», stellte sie fest, beugte sich dann über ihn und gab ihrem Freund einen zarten Kuss auf die Wange.
Während Oren sie zurück zur Treppe führte, beschlich Belinda ein leichtes Schuldgefühl, dass ihr Jonathans Erschöpfung nicht selbst aufgefallen war. Bis jetzt hatte er auf ihrer Reise so gut wie die ganze Strecke hinterm Steuer gesessen, und diese Belastung hatte ihm ganz offensichtlich recht zugesetzt.
Im Erdgeschoss angekommen, wurde sie wieder in die große Bibliothek geleitet, wo der Anblick des Ledersofas sie tatsächlich zum Erröten brachte. Es schien nur einen kurzen Moment her zu sein, seit sie hier halbnackt auf dem Schoß von André von Kastel gesessen hatte.
Der Graf wartete schon auf sie. Er stand vor einem der großen Regale und hielt ein in Leder eingeschlagenes Buch in der Hand. Der Mann schien völlig in Gedanken versunken zu sein. Plötzlich runzelte er die Stirn und überblätterte mehrere Seiten. Belinda nutzte diesen Moment, um sich durch ein Räuspern bemerkbar zu machen.
Als André aufsah, fiel ihr zuallererst die Ernsthaftigkeit in seinen blauen Augen auf. Das Schelmische, das sie zuvor in seinem Blick gefunden hatte, war verschwunden und hatte erneut jener obskuren Aura der Traurigkeit Platz gemacht, die aus der Tiefe seiner Psyche aufzusteigen schien. Zwar lächelte er sie zur Begrüßung an, doch die Betrübnis war weiterhin spürbar.
«Guten Abend, Belinda», hieß er sie willkommen, legte das Buch weg und kam auf sie zu. «Hinreißend sehen Sie aus. Bei Ihrem Anblick hebt sich auch die trübste Stimmung.»
Wie zuvor schon beugte er sich über ihre Hand und schlug die Hacken zusammen. Belinda schlug das Herz bis zum Hals, als seine Lippen ihre Finger berührten.
Auch André hatte sich umgezogen und war jetzt von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Schwarzes Seidenhemd, schwarze Hose und schwarze Schuhe. Eine Krawatte hatte er erstaunlicherweise nicht umgebunden, aber er trug eine überaus elegante, altmodische Smokingjacke, die ihm so gut stand, dass es Belinda fast den Atem verschlug. Seinseltsames, gesträhntes Haar hing lose bis auf die Schultern herunter und wirkte trotz der hellen Farbe glänzend und gesund. Belinda hätte schwören können, dass es sogar noch blonder als zuvor war.
«Danke», erwiderte sie auf sein Kompliment und war etwas verwirrt, weil er ihre Hand gar nicht mehr freigab.
«Sie machen sich Sorgen um Ihren Freund, nicht wahr?» Er drückte ihre Finger kurz, bis er sie schließlich losließ.
Und schon wieder las er ihre Gedanken. Belinda konnte immer noch seinen festen, kühlen Griff spüren. «Ja, ein wenig. Johnny ist normalerweise immer fit. Es sieht ihm gar nicht ähnlich, dass er sich irgendwas einfängt.
«Machen Sie sich keine Sorgen», sagte André und schaute sie mit hypnotischem und gleichzeitig beruhigendem Blick an. «Ich habe ihn mir angesehen, und er scheint recht gesund zu sein. Wahrscheinlich ist er einfach nur ein bisschen übermüdet.» Sein Mund verzog sich etwas, so als wollte er andeuten, dass sie der Grund für Jonathans Müdigkeit war. «Ich habe ihm einen Kräutertrunk verabreicht. Etwas, das ihn ganz tief schlafen lässt und ihm seine Stärke und Energie zurückgibt.»
«Danke», murmelte Belinda erneut. Sie musste die Augen von André abwenden, denn sie ertrug die Intensität seines Blickes nicht mehr. Stattdessen betrachtete sie die unzähligen Bücher in den Regalen. «Ich wusste gar nicht, dass Sie Arzt sind.»
Der Graf zuckte mit den Schultern und schaffte es irgendwie, ihre Augen erneut zu fixieren. «Bin ich auch nicht.» Er lächelte etwas schief. «Ich habe zwar ein wenig medizinisches Wissen, aber ein Arzt bin ich beileibe nicht. Ich kenne mich lediglich mit gewissen …» Er zögerte. Seine glitzernden Augen tanzten. «… Heilmethoden aus, die sich über die Jahre bewährt haben.»
«Ich interessiere mich sehr für alternative Medizin. Kräuter und Aromatherapie und dergleichen», beeilte Belinda sich ihm mitzuteilen. Das war auch nicht gelogen, denn jetzt, wo sie hier mit André stand, interessierte sie sich wirklich dafür. «Kennen Sie irgendwelche guten Rezepte oder Tränke, die Sie weitergeben können?»
Während dieser Sätze schien erneut dieser seltsame Schatten über sein Gesicht zu huschen, der sofort verschwand, als er ihr antwortete.
«Rezepte würde ich es nicht
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