Das schönste Wort der Welt
einem kleinen
Hotel im venezianischen Stil. Zum Mittagessen gingen wir nicht dorthin zurück.
Wir wanderten durch das Strauchwerk der Garrigue und über helle Felsen zu einem
kleinen Strand, der sofort unser wurde. Den ganzen Tag über blieben wir im
Wasser. Stundenlang erforschte ich den Meeresgrund und die kleinen Fische, die
in dem glasklaren Wasser dicht an meinen Körper heranschwammen. Die
Kieselsteine am Strand wechselten mit jeder Stunde des Tages ihre Farbe. Sie
zogen das Licht an, schienen zu wandern und sich nach einem geheimen Muster
fortwährend neu zu ordnen. Frühmorgens war es, als ginge man über ein
unermessliches Gelege kleiner Eier, die kurz davor waren aufzuplatzen. In der
Abenddämmerung nahmen die Steine ein gemasertes, flimmerndes Blau an und
ähnelten krabbelnden Insektenkörpern. Nachts ließ der weiße Lichtschein des Mondes
die Felsen zerlaufen. Die Steine bekamen den metallischen Widerschein
erlöschender Kohle.
Gojko hatte sich von
einem Reifenhändler einen Schlauch besorgt und war hineingeschlüpft, nun
dümpelte er, die Ellbogen auf den schwarzen Gummi gestützt und ein Buch lesend,
im Wasser herum. Von Zeit zu Zeit unterbrach er seine Lektüre und sang aus
voller Kehle.
» Kakvo je vrijeme … Vrijeme je lijepo … sunce
sija … «
Auf seiner Stirn, die
er mit einem nassen Fetzen Zeitungspapier vor der Sonne schützte, schälte sich
bereits ein großes Stück Haut ab. Als er müde wurde, verließ er seine
Seestation und wanderte mit freiem Oberkörper in der Sonne meilenweit zu einem Getränkekiosk,
von dem er schweißüberströmt mit kaltem Bier und Fischspießen für alle
zurückkam. Diego fotografierte Salzpfützen, die wie Gesichter aussahen,
Totenmasken altertümlicher Krieger. Er war einunddreißig, die Jahre waren ihm
gut bekommen. Sein Gesicht war asketisch und sinnlich zugleich. Er hatte das
Grübchenkinn eines Kindes und in seinem tiefliegenden Blick eine zusätzliche
Traurigkeit. Ich war sechsunddreißig, mein Körper war noch jung, doch mein
Gesicht litt unter meiner Magerkeit. Meine Sonnenbräune betonte die kleinen Spuren
des Mienenspiels. Das Neonlicht im Bad des Hotels war brutal, ich schaltete es
nach Möglichkeit nicht ein und schminkte mich auf dem Bett sitzend im
Halbdunkel des Zimmers, ein Stückchen Gesicht im Taschenspiegel meines
Rougekästchens. Abends aßen wir in den kleinen Restaurants am Touristenhafen,
Krustentiere, Miesmuscheln alla buzara in Knoblauch und Semmelmehl und den köstlichen Käse aus der Milch
der Ziegen, die auf den Felsen die Büsche abfraßen. Dazu Karaffen mit Wein aus
der Region. Mir fielen ein paar junge Mädchen auf, die mehr als einmal an
unserem Tisch vorbeischlenderten, Saisonkellnerinnen von der Insel, angesteckt
von der Ausgelassenheit der Touristen. Verstohlen schauten sie zu Diego
herüber, zu seinem gebräunten Gesicht, das aus dunklem Holz geschnitzt und
poliert zu sein schien. Immerhin waren wir ein Dreiergespann, und ich sah
vielleicht aus wie Gojkos Frau. Um die kleinen kroatischen Glückssucherinnen zu
vertreiben, schmiegte ich mich an Diego und küsste ihn.
Der Krieg war schon
da, doch in jenem Sommer wusste ich das nicht, ich kümmerte mich nicht darum.
Gojko schwamm den lieben langen Tag in seinem schwarzen Gummiring herum, kritzelte
Gedichte und vertickte irgendwelchen Krimskrams zum Spielen. Nach dem
Abendessen verschwand er, um sich mit seiner stämmigen Figur zum Schwitzen auf
irgendeinen Körper zu werfen, doch wenn ich es heute bedenke, war der Krieg
damals bereits in seinen Augen und auch in seiner Lust, über die Stränge zu
schlagen und alles mitzunehmen. Vielleicht tat er es nur für uns, wollte er,
dass seine beiden italienischen Lieblinge noch in den Genuss dieses Meeres,
dieser Miesmuscheln und dieses Weines kamen. Die letzte Beute vor der
Finsternis. Heute weiß ich, dass Gojkos Vergnügungssucht die fröhliche Tochter,
das Freudenmädchen jener düsteren Vorahnung war.
»In Zagreb sind alle
Serben Tschetniks geworden, in Belgrad sind alle Kroaten Ustaschas.« Er spuckte
Traubenkerne ins Meer. »Die Propaganda … das Fernsehen … Erst kommt die
Propaganda, dann die Geschichte …« Er lachte, sprach von den Führern, deren
Namen wir zum ersten Mal hörten, wie von einem Haufen Trottel, Leute, die sich
mit dem Föhn die Haare aufbauschten und sich das Gesicht mit Schminke
zukleisterten, um im Fernsehen aufzutreten. Milošević habe angefangen, die Gebeine von Fürst Lazar durch die Gegend
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