Das schwarze Blut
rechts, ein Naserümpfen links, und die Brillengläser schoben sich wieder in die Höhe.
»Was hat das mit Ihrer Kirchensache zu tun?«
»Nichts.«
Mark eilte hinaus. Die schmutzige Pariser Luft machte ihn schwanken. Er fühlte sich benommen – von den Lügen, der Angst. Den Autos, die an ihm vorbeischossen. Er versenkte die Hände in den Taschen und machte sich auf die Suche nach einem Café. In der ersten Bar, an der er vorbeikam, bestellte er an der Theke einen Espresso und ging gleich weiter, die Treppe hinunter ins Souterrain.
Dort betrat er die Telefonzelle, wo unter der Ablage sogar ein Telefonbuch lag. Während er blätterte, zwang er sich, langsam zu atmen. Dialyse hin oder her – Alain van Hêms Abwesenheit behagte ihm gar nicht. Nicht an diesem Tag. Zu seiner Erleichterung wurde er nach kurzem Suchen fündig: ALAIN VAN HÊM, 70, RUE DU JAVELOT, SAPPORO-TURM.
Er wählte die Nummer, doch es meldete sich niemand. Also machte er sich auf den Weg ins Chinesenviertel.
Um ein Uhr mittags stand er vor dem Gebäude.
Die dumpfe Angst, die sich in ihm breit gemacht hatte, ließ ihn nicht mehr los. Ein Schweißfilm überzog ihn von Kopf bis Fuß, wie die dünne Schicht Wasser im Taucheranzug, die, sobald sie sich erwärmt, gegen die Kälte isoliert – in seinem Fall war die Schicht eiskalt.
Rasch ging er auf das Hochhaus zu, das ihm mit jedem Schritt größer zu werden schien, bis es den gesamten Horizont verdeckte. Als er in seinen Schatten eingetreten war, fühlte er sich wie Jonas im Bauch des Wals.
Er drückte die äußere Glastür auf und verkniff sich einen Fluch: Natürlich fehlte ihm der Code, mit der sich die zweite Tür öffnen ließ. Also hieß es warten, schwitzen, in der Schleuse auf und ab tigern, bis endlich ein alter Chinese erschien und ihn einließ.
Vor der Wand aus Briefkästen in der Halle war er wieder nahe daran auszurasten, zwang sich aber zur Ruhe und ging systematisch, Spalte für Spalte, die Namen durch. In der Mitte der vierten Spalte fand er seinen Mann: zwölfter Stock, Tür 12238.
Der erste der vier Aufzüge fuhr, wie er zu spät bemerkte, nur die ungeraden Stockwerke an. Er drückte auf einen anderen Knopf. Wieder falsch: Dieser hier ging direkt in den zwanzigsten Stock. Was für ein entsetzliches Gebäude! Endlich hatte er den richtigen Aufzug erwischt und ließ sich in den zwölften Stock bringen.
Er schritt den Flur entlang, in dem sich eine rote Tür an die andere reihte, allesamt identisch. Oben rechts stand auf einem Kupferschild die jeweilige Nummer: 12236, 12237 … 12238. An den Türrahmen gelehnt, versuchte er seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Schließlich läutete er.
Keine Reaktion.
Er legte das Ohr an die Tür. Nicht das leiseste Geräusch. Er läutete noch einmal. Störte er Alain beim »Ölwechsel«? Ein saures Aufstoßen brannte in seiner Kehle. Er klopfte noch einmal, lauter, mit der Faust; dann warf er einen prüfenden Blick auf das Türschloss. Ein simpler Sicherheitszylinder.
Er legte die Hand oben an das Türblatt und drückte. Ein kleiner Spalt tat sich auf: Die Tür war nicht abgesperrt. Mark zog eine Kreditkarte aus der Tasche, schob sie auf der Höhe des Riegels in die Türritze und drückte mit der Schulter gegen die Tür. Das Schloss gab nach.
Sogleich stieg ihm ein befremdlicher Geruch in die Nase. Eine Mischung aus Fleisch und Metall.
Blut.
Er dachte zuerst an das Dialyseverfahren: Bei der Blutwäsche, das wusste er, wird das Blut des Patienten in ein Dialysegerät gepumpt, wo es mehrere Membranfilter durchläuft, um anschließend gereinigt in den Blutkreislauf zurückzukehren. Wenn Alain die Prozedur gerade hinter sich gebracht hatte, war der starke Geruch in seiner Wohnung nicht weiter verwunderlich, dachte Mark. Doch seine Angst wuchs. Er betrat die Diele und spürte sein Herz immer lauter schlagen, im Crescendo, wie in Ravels Boléro.
Er entdeckte ein kleines Wohnzimmer, das wie ein Puppenhaus eingerichtet war: gestreifte Tapete, geblümtes Sofa, davor ein Beistelltischchen, Nippes in einer Vitrine, ein Regal mit lauter gleich eingebundenen Büchern, die wahrscheinlich im Paket erstanden waren. Er ging weiter durch den Flur. Links die Küche. Rechts das Schlafzimmer. Beide leer. Durch die halb offene Tür am Ende des Flurs sah er weiße Kacheln: das Bad.
Der Geruch war jetzt so stark wie frische Farbe.
Sämtliche Sensoren in ihm signalisierten höchste Alarmstufe. Mit zwei Fingern schob er die Tür auf und musste sich amRahmen
Weitere Kostenlose Bücher