Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
dahinter schien noch undurchdringlicher geworden zu sein. Marks Blick verharrte auf Khadidschas Wagen. Einen Moment lang war er versucht, hineinzuspringen und nach Paris zurückzukehren. Aber vielleicht hatte Reverdi das Auto mit einer Sprengladung präpariert. Oder er saß selbst darin. Er starrte auf die massige Eiche und wurde von Neuem unsicher: Gewiss versteckte er sich dort hinter der silbrig schimmernden Rinde. Dann fiel sein Blick auf die Türen zu den im Schatten liegenden Stallgebäuden: Reverdi lauerte überall! Allein durch die Gefahr, die er darstellte, beherrschte er ihren gesamten Lebensraum.
    Im Hotel bleiben? Die Polizei rufen? Wieder hinaufgehen und sich im Zimmer einschließen, bis der Tag kam? Dann musste er wieder an die Augen denken, die über das Bett davonrollten, die krakelige, blutige Schrift: VERSTECK DICH SCHNELL, PAPA KOMMT. Fliehen. Sie mussten fliehen. Auf keinen Fall durften sie hier in diesem einsamen Hotel bleiben.
    Er fasste Khadidschas Hand fester und rannte los. In der Ferne grollte ein Donner. Mit jeder Sekunde schien die Dunkelheit schwerer und schwärzer zu werden. Sie liefen an den angestellten Autos entlang über den Parkplatz. Mark sah sich jeden Wagen an, spähte forschend in die Dunkelheit. Als sie an der Ecke des Hauptgebäudes angelangt waren, entdeckte er einen Pfad, der in die Nacht hineinführte.
    »Zieh deine Schuhe aus«, befahl er.
    Sie liefen zwischen den Bäumen, den Schatten, den nächtlichen Geräuschen hindurch. Eine Nacht auf dem Land: eine unwirtliche Welt, wie man sie normalerweise vom Fenster eines wohlig warmen Hauses betrachtet – die Quintessenz der Schwärze, von der man sich schaudernd abwendet, froh, nicht hinauszumüssen. Für sie beide gab es keine schützende Fensterscheibe mehr, sie waren mittendrin in dieser abweisenden Umgebung. Durchquerten sie, traten sie mit Füßen, drangen widerrechtlich in sie ein. Es war wie die Verletzung eines heiligen Tabus, gegen das niemand anderes zu verstoßen gewagt hätte.
    Zweige knackten unter ihren Füßen, sie stolperten über Wurzeln, Dornengestrüpp zerschrammte ihnen die Beine. Richtungs- und orientierungslos hasteten sie dahin. Über ihren Köpfen peitschte der Wind die Wolken über den Himmel, fegte durch die Baumwipfel, ließ das Laub rauschen.
    »Scheiße.«Vor ihnen tauchte ein Wald aus Weiden auf, deren lange, hängende Zweige hin und her wogten. Sie erweckten in ihm das Bild eines Bambuswalds. Er stellte sich vor, wie die Blätter die Haut des Mörders streifen. Wie über sein hassverzerrtes Gesicht plötzlich ein Zweig streicht. Mark sah ihn innehalten und die Zartheit der Berührung auskosten, während nach und nach, ausgelöst durch die pflanzliche Liebkosung, sein krimineller Wahnsinn ausbrach …»Nicht da hinein«, flüsterte er.
    Er umschloss Khadidschas Hand und schlug einen Haken nach links, zu den Feldern hin. Sie folgte ihm widerspruchslos.
Er war uneingestanden stolz auf sie, auf ihr Schweigen, ihren Mut.
Sie liefen jetzt ungeschützt unter freiem Himmel dahin, kämpften sich mühsam durch Ackerfurchen, überquerten Wiesen, tauchten wieder ins Unterholz ein. Mark verfluchte dieses feindselige, vom Wind belebte, vom Regen gestärkte Land. Doch er wagte nicht stehen zu bleiben oder sich umzusehen. Es war – im wahrsten Sinn des Wortes – eine Flucht nach vorn.
Als er die Scheune vor sich erblickte, war ihm klar, dass hier ihr panischer Lauf durch die Nacht vorläufig enden musste, sie war entweder Zuflucht oder tödliche Falle. Entweder hatte Reverdi ihre Spur verloren, und sie konnten hier den Tag abwarten, oder er war ihnen gefolgt, und es würde zwischen diesen vier Wänden alles zu Ende gehen. Er zog Khadidscha an der Hand hinter sich her. Er hörte ihren keuchenden Atem, doch sie gab keinen Klagelaut von sich.
Mit der Schulter stieß er die Tür auf. Gestank und Eiseskälte fuhren ihn an, gleichwohl fühlte er sich getröstet. Sich einfach fallen lassen unter diesem Dach und das Ende der Nacht abwarten: Weiter konnte er nicht denken. Die Dunkelheit war hier nahezu undurchdringlich. Sie traten in den uralten, am Gebälk haftenden Mief ein. Unter ihren Füßen spürten sie den Boden aus festgetretener Erde und getrockneten Kuhfladen.
Mark drückte die Tür wieder zu – und schloss die Nacht aus: Während er noch seine Taschen nach dem in Nanterre erstandenen Feuerzeug durchsuchte, flammte in der Dunkelheit ein Licht auf und ließ Khadidschas Locken schimmern: Sie hielt ihr

Weitere Kostenlose Bücher