Das schwarze Manifest
würde dieses Mittagessen sich doch noch lohnen.
»Zuständig bin ich dort für Rußland.«
»Dann beneide ich Sie nicht«, sagte Worthing und vertilgte seine letzte Garnele mit einer Scheibe des dünngeschnittenen braunen Brots. Er war ein großer Mann mit bemerkenswertem Appetit. »Auf dem Weg ins schiere Chaos, denke ich.«
»Oder so ähnlich. Seit dem Tod Tscherkassows konzentrieren sich alle Hoffnungen auf die bevorstehende Präsidentschaftswahl.«
Die beiden Männer schwiegen, während eine junge Serviererin die Lammkoteletts mit Gemüse und eine Karaffe des roten Hausweins servierte. Marchbanks schenkte ein.
»Das Wahlergebnis steht schon ziemlich fest«, meinte Worthing.
»Genau unsere Meinung. Die kommunistische Erneuerungsbewegung hat sich im Lauf der Jahre totgelaufen, und die Reformer sind untereinander zerstritten. Offenbar kann nichts Igor Komarow daran hindern, Präsident zu werden.«
»Wäre das schlimm?« fragte der Chefredakteur. »Seine Äußerungen aus letzter Zeit klingen ganz vernünftig. Den Rubel stabilisieren, das Abgleiten ins Chaos aufhalten, die Mafia bekämpfen. An sich vernünftige Ziele.«
Worthing war stolz darauf, ein Mann offener Worte zu sein, und neigte dazu, sich im Telegrammstil auszudrücken.
»Richtig, klingt wunderbar. Aber er bleibt weiter ein gewisses Rätsel. Was hat er wirklich vor? Wie will er das alles in die Tat umsetzen. Er sagt, daß er ausländische Kredite verabscheut, aber wie will er ohne sie auskommen? Oder genauer gefragt: Hat er vor, Rußlands Schulden zu negieren, indem er sie mit wertlosen Rubeln begleicht?«
»Das würde er nicht wagen«, sagte Worthing. Der
Daily Telegraph
hatte natürlich einen Korrespondenten in Moskau, der aber schon länger nichts mehr über Komarow geschrieben hatte.
»Wirklich nicht?« fragte Marchbanks. »Was er vorhat, weiß niemand. Manche seiner Reden klingen ziemlich extrem, aber in privaten Gesprächen überzeugt er seine Besucher davon, doch kein Menschenfresser zu sein. Wer von den beiden ist der wahre Igor Komarow?«
»Ich könnte unseren Mann in Moskau anweisen, sich mit der Bitte um ein Interview an ihn zu wenden.«
»Das er wahrscheinlich nicht bekäme, fürchte ich«, wandte der Spionagechef ein. »Ich glaube, daß praktisch jeder Moskaukorrespondent sich regelmäßig um ein Interview mit ihm bemüht. Er gewährt nur sehr selten Interviews und gibt vor, die Auslandspresse zu hassen.«
»Oh, da steht Siruptorte auf der Karte«, sagte Worthing. »Die nehme ich!«
Briten mittleren Alters sind selten zufriedener, als wenn man ihnen Gerichte anbietet, die es schon im Kindergarten gegeben hat. Die Bedienung brachte ihnen zweimal Siruptorte.
»Gut, wie kommen wir also an den Mann heran?« fragte Worthing.
»Er hat einen jungen PR-Berater, auf dessen Rat er zu hören scheint. Boris Kusnezow. Sehr clever, hat an einem amerikanischen Ivy League College studiert. Dieser Mann könnte der Schlüssel sein. Er versteht, er liest täglich die westliche Presse und ist vor allem von Ihrem Kolumnisten Jefferson angetan.«
Mark Jefferson war Redaktionsmitglied und schrieb im
Daily Telegraph
eine regelmäßige Kolumne. Er behandelte innen- und außenpolitische Fragen und war ein überzeugter Konservativer und begnadeter Polemiker. Worthing kaute seine Siruptorte.
»Das wäre eine Idee«, meinte er schließlich.
»Sehen Sie«, sagte Marchbanks, der sich allmählich selbst für seine List erwärmte, »Auslandskorrespondenten in Moskau gibt's wie Sand am Meer. Aber ein Starkolumnist, der eigens anreist, um ein Exklusivinterview mit dem zukünftigen Präsidenten, mit dem kommenden Mann zu führen – das müßte attraktiv sein.«
Worthing dachte darüber nach. »Vielleicht sollten wir alle drei Kandidaten in Wortporträts vorstellen. Um das Gleichgewicht zu wahren.«
»Gute Idee«, sagte Marchbanks, der gegenteiliger Meinung war. »Aber Komarow ist der einzige, der die Leute so oder so zu faszinieren scheint. Die beiden anderen sind Nullen. Nehmen wir unseren Kaffee oben?«
»Ja, das ist keine schlechte Idee«, stimmte Worthing zu, als sie oben im Salon unter dem Porträt der ›Kunstliebhaber‹ saßen. »Aber so rührend ich Ihre Sorge um unsere Auflagenhöhe finde – was soll unser Mann ihn fragen?«
Marchbanks mußte über die direkte Art des Chefredakteurs grinsen.
»Also gut. Ja, uns interessieren ein paar Dinge, die wir an unsere Herrn und Meister weiterleiten können. Am liebsten etwas, das nicht in Jeffersons
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