Das Schweigen der Schwaene
Haaransatzes auf den Bogen warf, merkte sie, dass ihre Hand zitterte. Dieses plötzliche Gefühl der Schwäche war ihr verhasst. Sie wollte nicht wie eine läufige Hündin darauf reagieren, wenn er mit lässigen Schritten durch das Zimmer ging. Das hatte sie bei Richard und selbst bei Bill niemals erlebt. Was in aller Welt war nur los mit ihr?
Sie legte den Stift zur Seite und sah die Skizze von Tanek genauer an. Sie hatte gedacht, ihn als Kunstgegenstand zu betrachten hätte vielleicht eine reinigende Wirkung auf sie. Sie hatte ihn so getroffen, wie er war, einschließlich seiner ruhigen Intelligenz, seiner Stärke, der Intensität dessen, was unter der Oberfläche verborgen lag, und des Hauchs von Sinnlichkeit, den der Schwung seiner Lippen verriet...
Sinnlichkeit. Wies sein Mund tatsächlich eine gewisse Sinnlichkeit auf oder hatte ihre Besessenheit die Skizze verfärbt? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie die Sinnlichkeit unve rhohlen und roh vor sich sah.
Sie sprang auf und schob den Skizzenblock in die Aktentasche zurück. Ihr war heiß, und ihre Wangen fühlten sich fiebrig an.
Wie dumm sie doch war. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihn niemals skizziert. Es hatte nichts genützt. Wo war die Selbstbeherrschung, die für sie so wichtig war? Schließlich war sie kein junges Mädchen mehr, das unter unkontrollierbaren Hormonschüben dem ersten Rendezvous entgegenhechelte.
Aber die Verletzlichkeit und Unsicherheit, die sie empfand, hätten besser zu diesem jungen Mädchen gepasst. Dabei hatte sie gedacht, diese Phase läge inzwischen längst hinter ihr. Was nützte es einem, in anderen Bereichen des Lebens selbstbewusst zu sein, wenn man sich von einem Mann...
Vergiss es. Geh ins Bett. Schlaf. Fang morgen noch mal von vorne an.
Aber das war leichter gesagt als getan. Letzte Nacht hatte sie stundenlang wach in ihrem Bett gelegen und sich danach gesehnt, dass...
O nein, heute nacht schliefe sie.
Wieder träumte sie.
Tanek blieb stehen, als er das leise Wimmern hörte, das durch Nells Schlafzimmertür in den Korridor drang.
Sie träumte. Sie litt.
Besser, er ginge in sein Zimmer und dächte nicht länger darüber nach. Schließlich passierte es fast jede Nacht. Er konnte ihr nicht helfen, und er wollte es auch nicht.
In ihre Träume einzubrechen bedeutete, ihr näher zu kommen, und er war ihr bereits allzunah.
Nicht ihre gequälte Seele interessierte ihn, sondern ihr kraftvoller, schöner Leib.
Himmel, er ginge jetzt ins Bett und dächte nicht länger an sie.
Ab, ab, ab, zu der roten Rose...
Nell kämpfte sich aus dem Schlaf, denn nur so entkam sie ihrem Traum.
Sie lag zitternd und schluchzend da und starrte blind in die Dunkelheit.
Es tut mir leid, Baby. Verzeih mir, Jill.
Sie setzte sich auf und zog ihre Pantoffeln an.
Sie musste raus aus dem Bett, aus dem Zimmer, aus dem Traum...
Musste ins Wohnzimmer, denn dort gab es Platz, Wärme, Helligkeit...
Sie ging eilig den dunklen Korridor hinab in Richtung des Lichts, das aus dem Wohnzimmer drang. Dort wäre alles gut.
Dort würde sie bleiben, bis sie wieder ruhiger war, und dann ginge sie ins Bett zurück.
Als sie die Tür des Wohnzimmers erreicht hatte, blieb sie plötzlich stehen. »Kommen Sie nur herein.« In einen weißen Morgenmantel gehüllt, saß Tanek auf der Ledercouch vor dem Kamin. »Ich habe Sie bereits erwartet.«
»Nein, ich...« flüsterte sie und trat in den Korridor zurück. »Ich wollte nicht - ich werde wieder gehen.«
»Damit ich weiter hier herumsitze und mir Sorgen mache um Sie? Warum? Ist es vielleicht effektiver, wenn man alleine über Dinge nachgrübelt, die man nicht ändern kann? «
»Ich grüble nicht.«
»Den Teufel tun Sie...« Er brach ab und fuhr müde fort: »Tut mir leid. Ich weiß, dass Sie nicht am Grübeln sind. Aber ich. Sie versuchen nur zu überleben. Kommen Sie rein. Dann fahren wir gemeinsam mit unseren Bemühungen fort.«
Sie zögerte. Ihre Gefühle für ihn waren bereits so verwirrend, dass sie nicht wollte, dass er sie so verletzlich sah.
Er blickte auf und lächelte. »Kommen Sie. Ich beiße nicht.«
Sein Ton enthielt keine Schärfe. Keine Bissigkeit. Langsam trat sie näher an ihn heran.
»Gut.« Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, wandte er sich wieder dem Feuer zu.
Sie kauerte sich auf einen Hocker vor dem Kamin.
»Sie brauchen gar nicht so angespannt zu sein. Ich habe nicht vor, mich auf Sie zu stürzen. Weder körperlich noch verbal.
Gegenüber Verwundeten
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