Das Schweigen der Toten
«Der Buhmann von Perry Hollow. Ich muss mich jetzt ein bisschen um ihn kümmern. Könnte eine Weile dauern.»
«Verstehe.» Nick hatte in einem Mordfall zu ermitteln. Alles andere interessierte ihn nicht. Also wünschte er Kat eine gute Nacht und verzog sich. Im Weggehen hörte er Kat fragen: «Was fällt Ihnen ein, mit einer Flinte rumzuballern?»
«Ich muss mich schützen», antwortete der Pitbull wenig überzeugend. «Was mit George Winnick passiert ist, wird mir nicht passieren.»
Nick hatte in der Stadt nur eine Übernachtungsmöglichkeit in einer Pension gefunden, die sich merkwürdigerweise
Sleepy Hollow Inn
nannte. Wer geblümte Tapeten und Spitzendeckchen schätzte, mochte sich hier wohlfühlen. Nicks Geschmack war das nicht. Aber er hatte schon in hässlicheren Hotelzimmern geschlafen und war so müde, dass ihn die Einrichtung nicht weiter störte.
Hatte er gedacht.
Er lag unter einem schweren Federbett mit Rosenmuster und konnte nicht schlafen. Seine Gedanken wollten sich nicht zur Ruhe begeben, und der abendliche Kaffee trug das Seine dazu bei. Wenn er die Augen schloss, sah er George Winnicks Leiche im grellen Licht der Gerichtsmedizin. Wenn er sie öffnete, sah er das kitschige Bild an der Wand.
Als er nach einer Viertelstunde beides nicht mehr aushalten konnte, stand er auf und machte sich an seinem Koffer zu schaffen. Es dauerte eine Weile, bis er fand, wonach er suchte – ein in Leder gebundenes Fotoalbum.
Er setzte sich auf die Bettkante, schlug das Album auf und betrachtete das Foto eines Mädchens mit braunen Haaren und freundlichem Lächeln, ein Porträt von Sarah mit fünfzehn Jahren, aufgenommen in der Schule. Nick hatte das Bild schon unzählige Male betrachtet, und doch hatte er immer wieder einen Kloß im Hals, wenn er es sah. Heute Nacht war es nicht anders. Das jahrzehntealte Bild seiner großen Schwester vor Augen überkam ihn tiefe Trauer.
«Ich habe dich nicht vergessen», sagte er. «Das weißt du, oder?»
Er blätterte in dem Album und las die Schlagzeilen der Zeitungsausschnitte, die er auswendig kannte.
MÄDCHEN AUS NEWTON VERMISST , stand über einem Artikel vom 7. Januar 1980, bebildert mit demselben Foto, das vorn im Album klebte.
KEINE SPUR VON VERSCHWUNDENEM MÄDCHEN , hieß es einen Tag später.
Und tags darauf: SUCHE NACH VERMISSTEM MÄDCHEN DAUERT AN .
Nick schlug die letzte Seite auf. Sie enthielt eine Schlagzeile, die auf den Tag genau vor dreißig Jahren, im März 1980, in der Zeitung gestanden hatte.
VERMISSTES MÄDCHEN OFFENBAR TOT .
Nick las die Zeilen ein zweites, drittes, viertes Mal, schlug dann das Album zu und warf es in den Koffer. Er streckte sich auf dem Bett aus, schlang die Arme um die Brust und wartete darauf, endlich einschlafen zu können.
Zwölf
«Henry! Pass doch auf!»
Henry sah direkt vor sich einen Lastwagen quer auf der Straße stehen. Zu spät. Der auf die Windschutzscheibe prasselnde Regen hatte ihm die Sicht genommen. Ein Mann stand auch auf der Straße und fuchtelte wild mit den Armen, damit er anhielt. Er wurde vom Scheinwerferlicht angestrahlt, und sein riesiger Schatten fiel hinter ihm auf den Lastwagen.
Henry trat auf die Bremse und merkte, wie die Reifen blockierten. Der Wagen geriet ins Schleudern, schien dabei aber noch schneller zu werden und raste auf den Mann zu.
Der Mann flog über die Kühlerhaube und schlug mit dem Gesicht auf die Scheibe. Die Augen waren vor Schreck aufgerissen, die Nase ein plattes, weißes Dreieck auf dem Glas. Dann rutschte er vom Auto und war verschwunden. Übrig blieb nur ein Blutfleck auf der Windschutzscheibe.
Henry riss das Steuer herum, doch der Wagen schleuderte auf den Lastwagen zu, schnell und unaufhaltsam …
Schreiend schreckte Henry aus dem Albtraum hoch. Er hob den Kopf und sah, dass er sich auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer befand. Ein Buch lag aufgeschlagen auf seinem Bauch:
Der Mann mit der eisernen Maske.
Offenbar hatte er sich wieder selbst bemitleidet.
Sein linker Arm hing vom Sofa herunter. Als seine Fingerspitzen Glas streiften, sah Henry hinunter und sah eine Weinflasche am Boden liegen. Leer. Anscheinend hatte er gleich nach seiner Rückkehr vom Bestattungsinstitut angefangen zu trinken. Er konnte sich nicht erinnern.
Als er sich aufrichtete, taten ihm Rücken und Schultern weh. Er tappte durch den Flur ins Badezimmer und pinkelte ausgiebig. Als er vor dem Waschbecken stand, betrachtete er sich im Spiegel.
«Mio viso»
, sagte er.
«Mio viso è
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