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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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nicht?«
    »Ich weiß nicht … Ich merke es nicht.«
    »Es ist eine Hommage an deine vielen Stunden der Betrachtung. Was suchst du in dem Bild?«
    »Ich weiß es nicht genau. Ich mache das unwillkürlich. Es gefällt mir.«
    »Ich habe dich nicht gefragt, was du darin findest, sondern was du darin suchst.«
    »Ich denke an das Kloster von Santa Maria de Gerri. Vor allem aber denke ich an das kleine Kloster von Sant Pere de Burgal, das dort ganz in der Nähe liegt und das ich nie gesehen habe. Erinnerst du dich noch an das Pergament von Abt Delligat, das ich dir gezeigt habe? Es war die Gründungsakte des Klosters von Burgal, und das alles liegt so lange zurück, dass die Geschichte mich berührt, sobald ich das Pergament anfasse. Ich denke an die Mönche, die jahrhundertelang zum Kloster hinauf und wieder hinab gestiegen sind. Die jahrhundertelang zu Gott gebetet haben, der nicht existiert. An die Salinen von Gerri. Und an die Geheimnisse hoch oben in Burgal. An die Bauern, die an Hunger und Elend gestorben sind, und an die Tage, die langsam, aber unaufhaltsam vergehen, an die Monate und Jahre – und das bewegt mich.«
    »Ich habe dich noch nie so viele Wörter hintereinander sagen hören.«
    »Ich liebe dich.«
    »Was suchst du noch darin?«
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß wirklich nicht, was ich suche. Es ist schwer zu erklären.«
    »Und was findest du darin?«
    »Merkwürdige Geschichten. Merkwürdige Leute. Die Lust zu leben und zu sehen.«
    »Warum fahren wir nicht hin und sehen es uns mal in echt an?«
    So machten wir uns auf den Weg nach Gerri, und beim Pass von Comiols gab der 600er den Geist auf. Ein redseliger Mechaniker aus Isona wechselte uns ich weiß nicht was am Zylinderkopf aus und riet uns, die Kiste so bald wie möglich loszuwerden, weil wir sonst nur Ärger hätten. Dieses Missgeschick kostete uns einen ganzen Tag, und als wir in Gerri ankamen, war es schon Nacht. Am nächsten Tag betrachtete ich vom Gasthof aus das Wirklichkeit gewordene Bild Urgells und hatte vor Rührung einen Kloß im Hals. Den ganzen Tag lang fotografierten und zeichneten wir es und sahen die Geister von Mönchen, Bauern und Salinenarbeitern ein und aus gehen, bis ich die Schemen der beiden Mönche bemerkte, die sich auf den Weg nach Sant Pere de Burgal machten, um dort den Schlüssel abzuholen und den kleinen, abgelegenen Konvent nach mehreren hundert Jahren klösterlichen Lebens zu schließen.
    Am darauffolgenden Tag brachte uns der wieder genesene 600er zwanzig Kilometer weiter nach Norden bis nach Escaló, und dort erklommen wir zu Fuß den Südhang von Barraonse über einen Ziegenpfad, den einzigen Zugang zu den Ruinen von Sant Pere de Burgal, dem Kloster meiner Träume. Sara erlaubte mir nicht, ihren breiten Rucksack mit dem Zeichenheft, den Bleistiften und Kohlen zu tragen: Das war ihre Last.
    Nach zehn Minuten hob ich vom Weg einen kantigen Stein auf, nicht zu groß und nicht zu klein, und Adrià betrachtete ihn nachdenklich, und da kam ihm zum ersten Mal das Bild der schönen Amani und ihre traurige Geschichte in den Sinn.
    »Was ist denn so Besonderes an diesem Stein?«
    »Nichts, nichts«, sagte Adrià und steckte ihn in seinen Rucksack.
    »Weißt du, wie du auf mich wirkst?«, fragtest du, keuchend von dem Aufstieg.
    »Hm?«
    »Genau so: dass du nicht fragst, wie denn, sondern hm.«
    »Das verstehe ich nicht.« Adrià, der vorneweg ging, bliebstehen, betrachtete das grüne Tal, lauschte dem fernen Rauschen der Noguera und wandte sich zu Sara um. Auch sie blieb stehen und lachte.
    »Immer bist du in Gedanken.«
    »Ja.«
    »Aber deine Gedanken führen dich immer weit fort. Du bist immer ganz woanders.«
    »Oje … tut mir leid.«
    »Nein. So bist du nun einmal. Ich habe auch meine Eigenheiten.«
    Adrià trat auf sie zu und küsste sie auf die Stirn, so zärtlich, Sara, dass ich heute noch ganz weich werde, wenn ich daran denke. Du weißt nicht, wie sehr ich dich liebe und wie sehr du mich verändert hast. Du bist in der Tat ein Meisterwerk – ich hoffe, du verstehst mich.
    »Du hast Eigenheiten?«
    »Ich bin eine seltsame Frau. Voller Komplexe und Geheimnisse.«
    »Die Komplexe lässt du dir aber nicht anmerken. Und was die Geheimnisse betrifft, gibt es eine einfache Lösung: Verrat sie mir.«
    Nun sah Sara ins Tal hinunter, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen.
    »Ich bin eine schwierige Frau.«
    »Du musst mir nichts erzählen, was du mir nicht erzählen willst.«
    Adrià machte sich wieder an den

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