Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
Vom Netzwerk:
Gebete erhört.
    »Ich bin nicht gläubig«, sagte ich. »Und ich bete auch nicht«, log ich.
    »Ihre Frau wird nicht sterben. Allerdings sind ihre Verletzungen …«
    »O Gott.«
    »Zunächst müssen wir abwarten, bis die Schädigungen abzusehen sind, die der Schlaganfall verursacht hat.«
    »Aha.«
    »Das Problem ist, dass noch mehr Probleme aufgetreten sind.«
    »Welche?«
    »Vor ein paar Tagen ist uns eine schlaffe Lähmung aufgefallen, verstehen Sie?«
    »Nein.«
    »Daraufhin hat der Neurologe ein CT angeordnet, und dabei haben wir einen Bruch des sechsten Halswirbels festgestellt.«
    »Und was heißt das?«
    Frau Doktor Real kam ein wenig näher und sagte in verändertem Ton: »Dass Sara eine schwere Verletzung des Rückenmarks erlitten hat.«
    »Sprechen Sie von einer Querschnittslähmung?«
    »Ja.« Nach einer kleinen Pause fügte sie leiser hinzu: »Von einer Tetraplegie.«
    Mit dem Präfix tetra , das ›vier‹ heißt, und dem Suffix plegie , das von plēgē kommt und ›Schlag‹ heißt, hatte man mir Saras Zustand beschrieben. Meine Sara ist vierfach geschlagen. Was täten wir ohne Griechisch? Wir könnten die großen menschlichen Tragödien weder ermessen noch begreifen.
    Ich konnte Gott nicht den Laufpass geben, weil ich nicht an ihn glaubte. Ich konnte Frau Doktor Real nicht ohrfeigen, weil sie keine Schuld traf. Ich konnte nur einen Schrei zum Himmel erheben, und ich war nicht da, ich hätte sie retten können; wäre ich zu Hause gewesen, wäre sie nicht ins Treppenhaus gelaufen, sie wäre hingefallen und hätte höchstens eine Beule am Kopf gehabt. Aber ich vögelte mit Laura.
    Man ließ ihn zu Sara. Sie stand noch unter Beruhigungsmitteln und konnte kaum die Augen offen halten. Er hatte den Eindruck, sie lächelte. Er sagte, er liebe sie sehr, sehr, sehr, und sie öffnete ein wenig den Mund, sagte aber nichts.So vergingen vier oder fünf Tage. Die Gardenien von Mignon leisteten ihr getreulich Gesellschaft, während sie ganz allmählich zu sich kam. Bis der Psychologe, der Neurologe und Frau Doktor Real ihm eines Freitags rundweg verboten, sie in Saras Zimmer zu begleiten, und sich eine gute Stunde darin aufhielten, während Dora die Tür bewachte wie ein Zerberus. Und ich saß weinend in einer Art Wartesaal, und als sie wieder herauskamen, ließen sie mich nicht hinein, um Sara einen Kuss zu geben, ehe nicht alle Tränenspuren aus meinem Gesicht getilgt waren. Und als sie mich sah, sagte sie nicht, ich könnte einen Kaffee vertragen, sondern, Adrià, ich will sterben. Und ich kam mir dumm vor mit dem Strauß weißer Rosen in der Hand und meinem gefrorenen Lächeln.
    »Sara, Liebes«, stieß ich endlich hervor.
    Sie sah mich an, ernst und schweigend.
    »Verzeih mir.«
    Nichts. Sie schluckte hart. Doch sie sagte kein Wort. Wie Gertrud.
    »Ich werde die Geige zurückgeben. Ich habe jetzt den Namen.«
    »Ich kann mich nicht bewegen.«
    »Hör zu, das wird wieder. Man muss abwarten …«
    »Sie haben es mir schon gesagt. Nie mehr.«
    »Was wissen die schon?«
    Trotz allem verzog sich ihr Gesicht daraufhin zu einem resignierten Lächeln.
    »Ich werde nie mehr zeichnen können.«
    »Aber einen Finger kannst du bewegen, nicht wahr?«
    »Ja, den hier. Und das ist alles.«
    »Das ist doch ein gutes Zeichen, oder nicht?«
    Sie würdigte diese Bemerkung keiner Antwort. Um kein unbehagliches Schweigen entstehen zu lassen, fuhr Adrià in aufgesetzt munterem Ton fort:
    »Zuerst müssen wir mit allen Ärzten sprechen. Nicht wahr, Frau Doktor?«
    Adrià wandte sich Frau Doktor Real zu, die eben ins Zimmer getreten war; er hielt immer noch die Blumen in der Hand, als wollte er sie der Ärztin überreichen.
    »Ja, selbstverständlich«, sagte Frau Doktor Real.
    Und sie nahm ihm den Strauß ab, als wäre er für sie bestimmt. Sara schloss die Augen und wirkte unendlich müde.

54
    Bernat und Tecla waren die ersten Besucher. Vor lauter Verlegenheit wussten sie nicht, was sie sagen sollten. Sara war weder zum Lächeln noch zum Scherzen aufgelegt. Sie sagte, danke, dass ihr gekommen seid, und weiter nichts. Ich sagte, sobald wir können, gehen wir nach Hause und richten uns so ein, dass sie es schön bequem hat; doch sie starrte trübsinnig zur Decke und rang sich nicht einmal ein Lächeln ab. Und Bernat sagte mit übertriebener Lebhaftigkeit, weißt du, Sara, ich war mit dem Quartett in Paris und habe in der Salle Pleyel gespielt, in dem mittleren Saal, wo vor ewigen Zeiten auch Adrià einmal gespielt hat.
    »Ach ja?«,

Weitere Kostenlose Bücher