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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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übersehen habe? So viele wie in deinem Leben, die zu erkennen ich ebenso wenig imstande gewesen bin.
    Nach und nach entdeckte ich eine Frau, die vom Krankenbett aus die Welt zu regieren verstand, ohne einen einzigen Finger zu rühren, nur indem sie sprach, befahl, vorschlug, verlangte, flehte und mich mit diesen Augen ansah, deren Blick mir bis heute durch und durch geht und mich mit solcher Liebe erfüllt, dass es schmerzt. Denn mich quälte mein schlechtes Gewissen, und dieses hatte einen Namen: Alpaerts. Ich wusste nicht mit Gewissheit, ob er der wahre Eigentümer der Geige war. Ich wusste nur, dass der Name nicht mit dem übereinstimmte, den mir mein Vater in einer Art Testament auf Aramäisch hinterlassen hatte. Davon sagte ich dir nichts, Sara, aber ich unternahm auch nichts, um meine Zweifel auszuräumen. Confiteor.
    An einem bleichen, trägen Nachmittag ohne Besuch, was inzwischen häufiger vorkam, denn die Leute mussten ihrer Arbeit nachgehen, sagtest du, bleib noch ein Weilchen.
    »Wenn Dora es erlaubt.«
    »Sie erlaubt es. Dafür habe ich schon gesorgt. Ich muss dir etwas sagen.«
    Mir war schon aufgefallen, dass Dora und du euch auf Anhieb verstanden hattet, ohne viel reden zu müssen.
    »Sara, ich glaube nicht …«
    »Hey. Sieh mich an.«
    Ich sah sie traurig an. Noch war ihr Haar lang, wunderschön. Und du sagtest, nimm meine Hand. Weiter oben, damit ich es sehe. So.
    »Was musst du mir sagen?«, fragte ich und fürchtete, sie würde wieder davon anfangen.
    »Ich hatte eine Tochter.«
    »Was?«
    »In Paris. Sie hieß Claudine und starb im Alter von zwei Monaten. Neunundfünfzig Tage wurde sie alt. Ich war wohl keine gute Mutter, denn ich habe die Gefahr nicht früh genug bemerkt. Claudine, Augen schwarz wie Kohle, hilflos, weinerlich. Und eines Tages ging es ihr plötzlich schlecht. Sie ist auf dem Weg ins Krankenhaus in meinen Armen gestorben.«
    »Sara …«
    »Es ist der tiefste Schmerz, den ein Mensch erleiden kann: der Tod deines Kindes. Darum wollte ich keines mehr haben. Ich hätte es wie einen Verrat an Claudine empfunden.«
    »Warum hast du mir das nie erzählt?«
    »Es war meine Schuld, und ich hatte nicht das Recht, dich mit einem so großen Kummer zu belasten. Bald werde ich wieder bei ihr sein.«
    »Sara.«
    »Was.«
    »Es war nicht deine Schuld. Und du musst nicht sterben.«
    »Ich will sterben, das weißt du.«
    »Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst.«
    »Genau das habe ich im Taxi auch zu Claudine gesagt. Ich will nicht, dass du stirbst, stirb nicht, du darfst nicht sterben, Claudine, hörst du, hörst du mich, Kleines?«
    Zum ersten Mal, seit du im Krankenhaus warst, weintest du. Um deine Tochter, nicht um dich, du starke Frau. Du schwiegst eine Weile und ließest deinen Tränen freien Lauf. Schweigend und respektvoll tupfte ich sie dir mit einem Taschentuch ab. Du nahmst all deine Kraft zusammen und fuhrst fort:
    »Aber der Tod ist mächtiger als wir, und meine kleine Claudine ist gestorben.« Erschöpft machte sie eine Pause. Noch zwei Tränen und dann sprach sie weiter: »Darum weißich, dass ich sie wiederfinden werde. Ich nannte sie immer meine kleine Claudine.«
    »Warum sagst du, du würdest sie wiederfinden?«
    »Weil ich es weiß.«
    »Sara …, du glaubst an gar nichts …« Manchmal kann ich den Mund nicht halten, das gebe ich zu.
    »Das ist wahr. Aber ich weiß, dass Mütter ihre toten Töchter wiederfinden. Andernfalls wäre das Leben nicht auszuhalten.«
    Ich schwieg, weil du wie fast immer recht hattest. Adrià schwieg, weil er zugleich wusste, dass das unmöglich war. Auch konnte er ihr nicht erklären, dass die Bosheit zu allem und noch mehr fähig war, obwohl er die Lebensgeschichte von Matthias Alpaerts und seiner wackeren Berta, der kränklichen Schwiegermutter, der schwarzhaarigen Amelietje, der brünetten Truu und der goldblonden kleinen Juliet noch gar nicht kannte.
    Als Sara in ihre Wohnung im achten Arrondissement zurückkam, suchte sie überall nach Bitxo und dachte, wo steckt er nur, wo steckt er nur, wo steckt er nur.
    Der Kater kauerte unter dem Bett, als schwante ihm Böses. Mit List und Tücke lockte Sara ihn hervor und sagte, komm, Schätzchen, komm, und als Bitxo sich vom Ton seines Frauchens täuschen ließ und hervorkam, packte sie ihn und schickte sich an, ihn von der Galerie in den Lichtschacht zu werfen, weil ich nie wieder ein Lebewesen in meinem Haus will. Nie wieder jemanden, der mir wegsterben kann. Doch das entsetzte Miauen des Katers

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