Das Schwein unter den Fischen
noch einmal treffen.«
»Nein!«, brülle ich.
»Zum Schlussmachen?«
»Na gut.«
»Bist du jetzt durch mit deinen Befehlen, kann ich gehen?«
»Wieso gehen? Du hast Schicht. Ich gehe!«, sage ich und knalle die Tür zu. Sie reißt sie wieder auf und schreit hinter mir her:
»Schlaf schön, Töchterchen!«
Ich gehe nach oben, lege mich ins Bett, schließe die Augen und bin hellwach. Mein Nacken ist so verspannt, dass mir übel wird, wenn ich mich auf die Seite drehe. Irgendwann döse ich doch ein bisschen weg und schrecke mitten in der Nacht mit rasendem Herzen wieder auf. Ich stehe auf und versuche eine Yoga-Übung, die mir Dr. Ray gezeigt hat. Doch davon werde ich noch nervöser. Ich habe das Gefühl, minutenlang nicht auszuatmen, überall unter der Haut kribbelt der überschüssige Sauerstoff.
Ich öffne das Fenster, lege mich wie früher als Kind mit dem Rücken auf die Fensterbank und lasse den Kopf raushängen. Mein Herz rast, es fällt mir schwer zu atmen. Wenn ich jetzt das Bewusstsein verliere, stürze ich auf die Straße. Also mache ich Liegestütze, bis ich nicht mehr kann. Irgendwann schlafe ich erschöpft auf dem Boden ein und träume von Kälbern, die Joachim-Matthias-Köpfe haben und mich einkreisen. Ich höre Ramona schreien, sie wird in einem weit entfernten Stall abgeschlachtet. Reiner kommt aus dem Imbiss gerannt, läuft den weiten Weg bis zu mir, verscheucht die Kälber, hält mir seinen Eimer unter die Nase, rührt Ramonas Blut unter sein Mett und sagt, dass wir zusammenhalten müssen.
»Stine, kleine Stine, du hast einfach zu viel Angst, es gibt für alles einen Ausweg.«
Ich wache auf, Reiner sitzt neben mir auf dem Boden. Kaum habe ich die Augen geöffnet, ruft er:
»Du willst uns verlassen, warum?«
»Was?«, murmele ich.
»Warum gerade jetzt?«
Ich richte mich auf, mein ganzer Körper schmerzt.
»Papa, Mensch, ich bin doch noch gar nicht richtig wach.«
Er stellt mir einen kalten schwarzen Kaffee hin, auf einem Teller liegt ein Mettbrötchen ohne alles.
»Hab ich dir irgendwas getan?«, fragt er.
»Nee, ich will doch nur mal was anderes machen, ich zieh ja nicht aus oder so.«
»Das kannst du dir auch gar nicht leisten. Ich zahl dir keine Bude.«
»Das will ich doch auch gar nicht, ich will nur was Neues ausprobieren.«
»Na, abhalten kann ich dich nicht.«
»Nee, aber du …«
»Wenn’s dir nicht gefällt, kannst du zurückkommen, aber nicht jederzeit, nur wenn wir eine freie Stelle haben. Ich hab schon einen Zettel ans Fenster gemacht, dass wir ’ne Aushilfe suchen. Nur dass du das weißt.«
»Ist ja gut, dann viel Glück bei der Suche.«
»Wie deine Mutter bist du. Die hatte auch keinen Humor. Mensch, Stine, ich hab doch noch gar keinen Zettel aufgehängt. Warten wir erst mal ab, ob dir dein neuer Job überhaupt gefällt. Sozialdienst? Das mach ich hier auch, guck sie dir an die ganzen Kaputtis, die mich jeden Tag vollnölen. Wo sollen die denn hin, wenn die nicht mehr zu Fehrmanns kommen können? Ich bin nicht nur schlagfertig auf die witzige Tour, sondern auch, wenn jemand Rat braucht. Da kannst du noch was lernen, Stint! Aber wer nicht will, der hat schon.«
»Papa, es tut mir leid, es ist doch nicht gegen dich gerichtet, dass ich …«
»Ich weiß mehr über dich, als du denkst, zum Beispiel, dass du viel mit Dr. Schwul rumquatschst. Und ohne Trixis Weisheiten wärst du mir vielleicht längst eingegangen.«
»Ach, Papa.«
»Ach«, sagt er und drückt meine Hand, bis es schmerzt.
»Ich hab mit Ramona alles geklärt, Papa. Sie übernimmt ab jetzt wieder mehr Schichten.«
Er sieht mit ernster Miene an mir vorbei.
»In Ordnung«, meint er mit feuchten Augen, steht auf und geht zur Tür. »Papa?«
Er verlässt mein Zimmer und schließt die Tür so leise wie nie zuvor.
GESCHMACKSSACHE
Es ist kühl für einen Sommermorgen. Ich stehe vor dem himmelblauen Haus und warte. Mehrmals schon habe ich geklingelt. Im oberen Stockwerk sind die Rollos hochgezogen. Ich setze mich auf eine der drei Stufen, hole einen Notizblock und einen Stift aus meiner Tasche und skizziere die Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit vorbeieilen. Eine Frau mit Aktenmappe fragt mich nach dem Weg zum Arbeitsamt. Sie ist etwa Anfang dreißig, doch ich werde sie später wie ein Kind zeichnen, aufgeregt und ängstlich. Sie hat eine seriöse Frisur und ist dezent geschminkt. Ihre Haare wippen steif, wenn sie den Kopf über den Stadtplan senkt. Aus Eitelkeit trägt sie ihre Brille nicht,
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