Das Schwert des Königs - Dark City ; 3
überhängend war. Ein Fluss schmiegte sich an seine steilen Wände wie ein glänzendes Silberband, und das Volk, das Arlo in den Mauerring gefolgt war, hatte sich auf beiden Seiten des Flusses und rund um den Tufffelsen niedergelassen und war hier sesshaft geworden.
Arlo, der mittlerweile dreißig Jahre alt war, führte seinen jüngeren Bruder an den Rand des Felsplateaus. Die offene Fläche war so groß, dass man darauf mühelos ein kleines Dorf hätte ansiedeln können.
Der König trat feierlich zu einem Klapptisch, auf dem ein unförmiger Gegenstand lag, der mit einem weißen Tuch zugedeckt war.
«Mein lieber Bruder», sagte Arlo und riss mit einer ruckartigen Bewegung das Tuch von dem Gegenstand. «Hiermit präsentiere ich dir das Modell unseres neuen Tempels.»
Drakar sah mit offenem Mund auf das fein ausgearbeitete Modell, das vor ihm auf dem Tisch lag. Es war eine exakte Nachbildung des Tufffelsens und der flachen Anhöhe, auf der sie sich befanden. Eine teils überhängende, teils in den Fels gegrabene Straße schlängelte sich um den Berg herum, und Hunderte von kleinen Miniaturmenschen strömten darauf dem Tempel entgegen. Der Tempel war eine monumentale Anlage. Er war von allen Seiten über eine große Treppe erreichbar und hatte dicke Mauern mit hohen Türmen und mehreren Toren, durch die man das Innere des Tempels betreten konnte, das unterteilt war in einen großräumigen Vorhof mit mehreren Säulenhallen und einen Innentempel, wo die Propheten aus dem Buch der Prophetie vorlesen würden. Arlo ließ das detailgetreue Tempelmodell auf Drakar einwirken.
«Er soll größer und schöner sein als alle Tempel, die je gebaut wurden», sagte Arlo und breitete seine Arme aus. «Und welcher Ort könnte dafür besser geeignet sein als dieser Felsen hier? Es soll ein Ort des Friedens sein, ein Ort der Besinnung, ein Ort des Auftankens. Dieser Tempel soll ein sichtbares Zeichen dafür sein, dass wir diese schwierige Zeit mit Gottes Hilfe überstehen werden.»
Drakar wischte sich sein langes schwarzes Haar aus der Stirn und schüttelte den Kopf. «Du bist mir ein Rätsel, Arlo. Du lebst in einem schlichten Haus mitten unter dem Volk, verzichtest auf jeglichen Komfort – sogar auf Wachen, obwohl ich dir dringend empfohlen habe, dir welche zuzulegen, die Zeiten haben sich schließlich geändert –, und jetzt willst du hier oben einen prunkvollen Tempel errichten? Wenn du schon etwas bauen willst, warum nicht ein Schloss, wie es einem König gebührt?»
«Ich liebe es, meinem Volk nahe zu sein», war Arlos schlichte Begründung. «Alle sollen wissen, dass ich jederzeit für sie da bin. Wenn sie mich rufen, so will ich sie hören.»
Drakar lachte leise. «Du warst schon immer ein Träumer, mein Bruder. Ich weiß nicht, ob du es absichtlich ignorierst oder ob deine Besessenheit für das Wort deinen Blick für die wahren Bedürfnisse des Volkes getrübt hat. Eine allgemeine Unzufriedenheit hat sich breitgemacht. Das Volk murrt. Es will keinen neuen Tempel. Es will zurück in seine Heimat.» Er deutete mit ausgestrecktem Arm nach Osten, wo in weiter Ferne ein Stück der Mauer zu sehen war. «Begreifst du denn nicht, Arlo? Wir alle wollen endlich aus diesem elenden Mauerring hinaus!»
«Das Unheil, das ich im Wort gesehen habe, wird unweigerlich über Shaíria hereinbrechen», entgegnete Arlo. «Wir dürfen den schützenden Ring nicht verlassen.»
«Bei Shaíria, das sagst du jetzt schon seit drei Jahren! Drei Jahre hältst du das Volk mit leeren Versprechungen hin. Wie lange willst du uns denn noch hier drin gefangen halten? Denn eins sag ich dir, mein Bruder. Die Geduld der Leute geht langsam zu Ende, und meine auch, um ehrlich zu sein. Wenn du deinem Volk wirklich helfen möchtest, dann gib ihm, was es verlangt: seine Freiheit.»
«Freiheit ist dort, wo das Wort gelebt wird, nicht dort, wo es keine Mauern gibt.»
«Deine Philosophie kann den Hunger des Volkes nicht mehr stillen, Arlo! Was glaubst du, warum die Menschen sich gegenseitig übers Ohr hauen, warum sie lügen, betrügen, ja sogar begonnen haben zu stehlen? Was glaubst du, warum die Dinge nicht mehr wie früher sind und wir uns eine Sicherheitsgarde anschaffen mussten, um für Ruhe und Gerechtigkeit zu sorgen? Was glaubst du, warum die Dinge beginnen, außer Kontrolle zu geraten? Warum wir sogar einen Gefängnisturm haben bauen müssen? Wohl den ersten Gefängnisturm seit tausend Jahren? Was glaubst du?»
Arlo schwieg. Aber es machte nicht den
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