Das Schwert des Königs: Roman (German Edition)
ein Schatten ihrer selbst. Schließlich blickte sie sich unter den Gesichtern um, von denen ihr einige inzwischen vertraut sein mussten. Ihre Augen glänzten unnatürlich, was an Fieber oder an Tränen liegen mochte. Kurz darauf senkte sie den Kopf und sackte auf dem Schemel zusammen. Offenbar bereitete sie sich innerlich auf die Schmähungen dieses Tages vor.
Anfangs herrschte Stille. Zwar murmelten einige Zuschauer »Miststück« oder »Mörderin«, aber nicht so laut, dass man die Schimpfworte bestimmten Personen zuordnen konnte. Andere verließen den Schauplatz voller Abscheu. Hatte die Gelegenheit, die Königin zu quälen, so schnell den Reiz des Neuen verloren?
Doch dann schlängelten sich vier Jugendliche – zwei gut gekleidete Jungen aus wohlhabendem Hause und deren kichernde Freundinnen, die ihre Begleiter anhimmelten –
durch die Menge, bis sie so nahe vor dem Käfig standen, dass sie die Gesichter an die Eisenstäbe drücken konnten. Während sie johlten und die gedemütigte Königin auslachten, hob diese nur kurz den Blick.
»He, weißt du, was einen Säugling und eine Weintraube miteinander verbindet?«, sagte einer der Jungen laut.
»Wenn man sie zerstampft, quetscht man aus der Traube Wein und aus dem Säugling ein Weinen !«, wieherte der andere Junge.
Auch die Mädchen lachten über den schlechten Witz. Ein paar Zuschauer kicherten in sich hinein, andere sahen die Jugendlichen böse an, doch die meisten wandten den Blick einfach ab. Niemand nahm die Königin in Schutz.
»He, weißt du, was rosa ist und fürchterlich herumspritzt?« , fragte eines der Mädchen. »Ein Säugling in der Bratpfanne.«
Erneut schütteten sie sich aus vor Lachen, ohne dass jemand sie zurechtwies oder Rhiannon verteidigte. Sie blieb mit gesenktem Kopf sitzen, die Hände schlaff im Schoß gefaltet. Ich kochte innerlich vor Zorn auf diese Rabauken, denen jedes Anstandsgefühl fehlte. Doch dann rief ich mir ins Gedächtnis, dass Rhiannon in deren Augen tatsächlich ein furchtbares Verbrechen begangen hatte. Das hier war Teil des über die Königin verhängten Urteils.
Dennoch drehte es mir den Magen um, wie sehr diese herzlosen Jugendlichen ihre Macht genossen. Und ich sah andere in der Menschenmenge, denen es genauso erging wie mir. Doch niemand trat vor, um irgendetwas gegen die vier zu unternehmen. Genauso wenig wie ich.
»Komm schon, das hier ist ja sooo langweilig«, sagte eines der Mädchen und zog ihren Freund am Arm.
»Nein, warte, ich weiß noch einen«, erwiderte er. »Warum steckt man einen Säugling mit den Füßen zuerst in den Kochkessel? Damit man sehen kann, welche Miene er zieht.«
Befriedigt darüber, dass sie ihre moralische Überlegenheit kundgetan hatten, bahnten sich die vier den Weg durch die Menge und verschwanden auf der Hauptstraße, was bei den Zuschauern eine Welle der Erleichterung auslöste. »Diese gottverdammten verzogenen Gören«, murmelte ein Mann. »Arschlöcher«, knurrte ein anderer.
Rhiannon hatte sich nicht gerührt. Nach vorne gebeugt war sie auf dem Schemel sitzen geblieben – erniedrigt, schwach und innerlich gebrochen. Von der selbstbewussten, glanzvollen Gefangenen, die ich vor wenigen Wochen besucht hatte, war nichts übrig geblieben. Das Haar, das damals wie Gold geglänzt hatte, hing jetzt verfilzt und in ungeordneten Strähnen vom Kopf.
Ringsum unterhielten sich die Menschen leise, und ein Großteil der Zuschauer machte sich bald auf den Weg zur Arbeit. Schließlich waren nur noch so wenige da, dass ich mich unter ihnen nicht mehr verstecken konnte, deshalb drehte ich mich um und wollte gehen. Rhiannon und ich hatten uns zwar nur ein einziges Mal getroffen, aber ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass sie mich nicht wiedererkennen würde. Bei ihr konnte ich mich auf gar nichts verlassen.
Plötzlich fiel mir aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf: Ein winziger Vogel, der auf einer der oberen Käfigstangen gesessen hatte, flog herunter und schwebte kurz
unmittelbar neben der zusammengesunkenen Königin in der Luft. Ich konnte nicht erkennen, ob der Vogel sie berührte. Gleich darauf erhob er sich in die Lüfte.
Rhiannon holte tief Luft, setzte sich aufrecht hin, warf das ungepflegte, strähnige Haar aus dem Gesicht und musterte die Zuschauer. Es war so, als hätte der Vogel ihr neue Kraft verliehen. Oder als hätte er – wie der Vogel in meinem Traum – ihr viel von ihrer Bürde genommen.
Mir fielen die Vögel ein, die im Gefängnisturm während meines
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