Das Schwert des Königs: Roman (German Edition)
Menschen, die zur Arbeit in die Hauptstadt strebten. Ich wollte Rhiannons öffentliche Bestrafung mit eigenen Augen sehen.
Die fünfzehn Fuß dicken und dreißig Fuß hohen Stadtmauern stammten aus einer Zeit, als von ihrer Stärke das Überleben Arentias abhing. Mittlerweile wurden sie vor allem dazu genutzt, den Fußgänger- und Fuhrwerksverkehr zu regeln, der durch die vier Haupttore geleitet wurde. Alle paar Jahre setzte sich irgendein hoher städtischer
Beamter oder ein Adliger, der sich wichtigtun wollte, dafür ein, die alten Stadtmauern entweder niederzureißen oder zusätzliche Tore zu schaffen, doch das verlief jedes Mal im Sande. Denn nicht zuletzt hätte das bedeutet, dem Geldadel, der jetzt die Innenstadt beherrschte und durch die Stadtmauer nach außen hin abgeschirmt war, sein Privileg zu nehmen.
Allerdings war die Mauer nicht durch und durch massiv. Sie beherbergte ein regelrechtes Netz von Durchgängen und Kammern, die ursprünglich dazu geschaffen worden waren, den Soldaten bei feindlicher Belagerung Schutz und Unterkunft zu bieten. Einer dieser Räume diente jetzt, nach leichter Umgestaltung, als Königin Rhiannons gut bewachte Gefängniszelle. Sie war lediglich mit einer Pritsche, einem kleinen Tisch, Klosett und primitiver Waschgelegenheit ausgestattet. Irgendwelche Annehmlichkeiten oder persönliches Hab und Gut waren der Königin nicht erlaubt. Das Essen wurde ihr durch eine winzige Klappe in die Zelle gereicht, und sie gab das Geschirr auf demselben Weg zurück. Ihr wurde nur eine einzige Kerze im Monat zugestanden.
Ihre Zelle lag an der Innenseite der Mauer. Ein mit Schraubbolzen im Stein befestigter Käfig sicherte den Durchgang nach draußen und den davor liegenden Raum, wo ein roh gezimmerter Holzschemel zum neuen Thron der Königin geworden war. Durch die Käfigstangen hindurch hatten die Bürger Tag für Tag einen ungehinderten Blick auf die so tief gefallene Königin. Jeden Morgen tauchte sie dort bei Sonnenaufgang auf, um ihren Platz im Käfig einzunehmen und sich der öffentlichen Bestrafung auszusetzen.
Während meiner Abwesenheit hatte sich in Arentia geradezu ein Gewerbe rund um die Königin und ihr Verbrechen entwickelt. In aller Eile hatte man zwei Bücher darüber zusammengeschustert, und es ging das Gerücht, es sei ein großes Theaterstück über ihre Schandtat in Vorbereitung. Eine Sängerin namens Stefanie Soundso hatte Rhiannons Schicksal in einem Lied verewigt. Und ein geschäftstüchtiger Künstler hatte eine Karikatur des offiziellen Porträts der Königin gezeichnet, bei der ihr ein winziger Fuß aus dem Mund hing. Er verkaufte diese Karikatur als Emblem auf Fahnen, Hemden und Bierhumpen.
Bei Pendlern, die Frühschicht hatten, war die morgendliche Beleidigung der Königin mittlerweile zum festen Bestandteil ihres Frühstücksrituals geworden. Als ich am Stadttor ankam, hatten sich dort schon mindestens hundert Leute versammelt. Manche tranken Tee und knabberten dazu geröstetes Brot, andere tauschten Klatsch und Tratsch aus oder begrüßten alte Freunde. Es ging eher wie bei einer lockeren Zusammenkunft einer religiösen Gemeinschaft zu, nicht wie bei einer öffentlichen Schmähung.
Plötzlich wurde ringsum zur Stille gemahnt, denn die Stahltür des Käfigs öffnete sich und Rhiannon trat aus ihrer Zelle. Sie sah blass und ausgezehrt aus, hatte dunkle Ringe um die Augen und struppiges, ungepflegtes Haar. Ihr Gewand bestand aus achtlos zusammengenähten alten Fetzen, die nackten Füße und Beine waren schmutzig. Ohne zur Menschenmenge aufzublicken, schlurfte sie zu ihrem Schemel.
Ich blieb so weit hinten, dass sie mich wohl kaum bemerken würde. Und falls doch, würde sie mich aus dieser
Entfernung wahrscheinlich nicht wiedererkennen. Ich sah viel Mitgefühl auf den Gesichtern der Zuschauer, die den schrittweisen Zusammenbruch der einst so stolzen Schönheit miterlebt hatten. Soweit sie wussten, hatte sie eines der schlimmsten Verbrechen begangen, aber das war außerhalb des öffentlichen Blickfelds in dem großen Schloss geschehen, das über dem gemeinen Volk aufragte. Den langsamen Verfall der Königin in ihrem Käfig bekamen sie dagegen jeden Morgen aus unmittelbarer Nähe mit. Und wer konnte das schon Tag für Tag anschauen, ohne davon berührt zu werden?
Als Rhiannon auf dem Schemel Platz nahm, enthüllte das zerschlissene Gewand einen Großteil ihres Körpers, aber das hatte nichts Erotisches an sich, dazu wirkte sie viel zu erschöpft und viel zu sehr wie
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