Das Schwert des Sehers
sollte.«
Meris hätte gern noch mehr von diesem Mann erfahren bei einem weiteren Tanz. Aber der Augenblick war vorüber, und es gab andere, mit denen sie reden musste.
Sie verabschiedete sich und wandte sich zu dem Podest hin. Irgendetwas ging dort vor. Die meisten Gäste im Saal überragten sie, und selbst wenn sie sich auf die Zehenspitzenstellte, konnte Meris nicht über die Edlen vor ihr hinwegblicken.
Sie schlängelte sich durch die Menge, bis sie die Stufen erreichte. Der Kanzler trat gerade von der Kaiserin fort. Aruda blieb vor ihrem Thron stehen. Sie blickte Arnulf nach und runzelte die Stirn.
Arnulf von Meerbergen schob andere Fürsten und Ritter beiseite, die gleichfalls die Nähe des Throns suchten und die in die Lücke vorstoßen wollten, die der Kanzler hinterließ. Sortor trippelte neben ihm her, und der Hofrat an Efforel folgte ein Stückchen dahinter. Am Rande des Podestes und oberhalb der Menge im Saal hielt der Kanzler inne. Er hob die Arme, und seine tiefe Stimme trug weit in den Raum hinein.
»Ich bedanke mich, dass die Gäste so zahlreich erschienen sind, um meine Rückkehr in das beschwerliche Amt des Kanzlers zu feiern.«
Das Gemurmel in der Halle ebbte ab. Die Tanzmusik übertönte die Stimmen und mischte sich mit dem Harfenspiel auf der anderen Seite des Saals.
»Ich danke Euch«, wiederholte der Kanzler. »Aber damit nicht genug. Ich will die Gelegenheit nutzen, um eine Ankündigung zu machen. Um ein weiteres Amt vorzustellen, dessen Besetzung wir heute feiern können.«
Er trat einen Schritt zur Seite, sodass an Efforel hinter seinem breiten Rücken verschwand wie ein kleiner Fisch, der von einem größeren verschluckt wurde. Er wandte sich Sortor zu und wies mit beiden Händen auf sie.
»Ich möchte dem Hof an diesem Abend die Dame Sortor vom Silberquell vorstellen. Die Horden des Mahdi haben sie aus ihrem Heim im Norden vertrieben, doch ihr tragisches Schicksal ist unser Gewinn. Ich freue mich, dass sie heute hier ist, um eine Lücke zu füllen und eine offene Flanke inden Diensten des Kaiserreichs zu schließen. Sie wird an meiner Seite für die Einheit des Reiches kämpfen.«
Meris starrte zu dem Podest hinauf. Sortor sah krank aus, fast zerbrechlich neben dem hühnenhaften Kanzler. Aber es lag nicht nur an diesem Gegensatz. Meris musterte die Frau genauer und hatte das Gefühl, dass Sortor benommen aussah, kraftloser als bei ihrer Begegnung früher am Abend.
Der Kanzler fuhr mit seiner Ansprache fort: »Ich begrüße Sortor vom Silberquell, die neue Hofmagierin der Kaiserin.«
17.11.962 – MERIS, HAUS IN HOROME
M eris erwachte. Schmale Streifen Licht fielen durch die Ritzen zwischen den Latten, mit denen sie die Fenster abgedichtet hatte. Sie hörte Stimmen draußen im Flur. Ihre Tochter krähte fröhlich. Meris zog die gebogene Klinge unter der Matratze hervor und trat an die Tür der Wohnstube.
Sie erkannte die rundliche Gestalt von Dekka, der Amme, in dem verwaschenen geblümten Kleid und mit dem Kopftuch, das sie immer trug. Und dahinter, von Sonnenlicht umstrahlt, stand Dauras in der offenen Tür und sprach mit der Frau. Tordis rannte den beiden Erwachsenen zwischen den Beinen herum.
Meris seufzte und legte den Dolch auf einem hohen Regalbrett im Flur ab.
»Verschlafen?«, fragte Dauras. Er schien ihr die Zurechtweisung des gestrigen Tages nicht mehr nachzutragen. »Ich dachte mir, ich schaue, wie du die letzte Nacht überstanden hast.«
Es war verwirrend, mit einem Mann zu reden, der immer in eine andere Richtung blickte.
»Sie ist spät zurückgekommen«, sagte Dekka. »Ich war mit dem Kind heute Morgen in der Küche, um sie nicht zu wecken.«
»Sehr rücksichtsvoll«, erwiderte Dauras und ignorierte tapfer, wie Tordis versuchte, an seiner Kutte hochzuklettern.
Meris ging in die Hocke und streckte die Hand aus. »Tordis, komm her zu mir.«
Sie nahm das Kind auf den Arm und trat in die Stube zurück, in der sie auch schlief. Dauras folgte ihnen.
»Hast du keine eigene Aufgabe im Palast?«, fragte sie.
»Die Kaiserin ist im Garten. Ich nehme an, da ist sie sicher.«
»Was für ein Garten?«, fragte Meris.
»Ein Garten auf dem Dach eines Seitenflügels. Ein unheimlicher Ort. Aber das Mädchen scheint dort willkommen zu sein, auch wenn sie die meiste Zeit auf einer Bank sitzt und Selbstgespräche führt.«
Meris sah Dauras an und versuchte, aus seinen Worten schlau zu werden.
»Wir haben dich gestern Abend vermisst«, sagte Dauras.
»Ich bin da
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