Das Schwert in Der Stille
bisschen mehr anstrengen können.«
Ich stand da und starrte Kaede mit offenem Mund an wie ein Idiot. Ich dachte: Wenn ich sie jetzt nicht in die Arme nehme?! Dann, sterbe ich.
Kenji reichte mir ein Handtuch und stieß mich grob in die Brust. »Takeo…«, fing er an.
»Was?«, fragte ich dumm.
»Fang nur nicht an, die Dinge zu komplizieren!«
Shizuka sagte so scharf, als würde sie vor einer Gefahr warnen: »Lady Kaede!«
»Was?« Kaede schaute mir immer noch unverwandt ins Gesicht.
»Ich glaube, das reicht für einen Tag«, sagte Shizuka. »Lassen Sie uns in Ihr Zimmer zurückgehen.«
Kaede lächelte mir zu, plötzlich war sie gar nicht mehr zurückhaltend. »Lord Takeo«, sagte sie.
»Lady Shirakawa.« Ich verbeugte mich, wie es sich gehörte, doch ich musste einfach zurücklächeln.
»Nun, jetzt ist es geschehen«, murmelte Kenji.
»Was hast du erwartet? Es ist das Alter!«, entgegnete Shizuka. »Sie werden darüber hinwegkommen.«
Während Shizuka Kaede aus der Halle führte und den Dienern draußen zurief, sie sollten Regenschirme bringen, dämmerte mir, wovon sie redeten. Im einen hatten sie Recht und im anderen Unrecht. Kaede und ich waren versengt von der Sehnsucht füreinander, von mehr als Sehnsucht, von Liebe, aber wir würden nie darüber hinwegkommen.
Eine Woche lang hielten uns die schweren Regenfälle in der Bergstadt fest. Kaede und ich trainierten nicht mehr zusammen. Ich wünschte, wir hätten es nie getan. Es war ein Augenblick der Tollheit gewesen, ich hatte es nie gewollt, und jetzt wurde ich von den Folgen gemartert. Den ganzen Tag horchte ich auf sie. Ich hörte ihre Stimme, ihren Schritt und nachts, wenn uns nur eine dünne Wand trennte, ihr Atmen. Ich wusste, wie sie schlief (unruhig) und wann sie erwachte (häufig). Wir verbrachten eine gewisse Zeit zusammen - wir waren dazu gezwungen durch die Enge der Herberge, weil wir zur selben Reisegesellschaft gehörten, weil erwartet wurde, dass wir bei Lord Shigeru und Lady Maruyama waren -, aber wir hatten keine Gelegenheit, miteinander zu reden. Wir fürchteten beide gleichermaßen, glaube ich, unsere Gefühle zu verraten. Wir wagten kaum, einander anzuschauen, aber hin und wieder begegneten sich unsere Blicke, und das Feuer loderte wieder auf zwischen uns.
Ich wurde mager und hohläugig vor Sehnsucht, was sich durch Schlafmangel noch verschlimmerte, denn ich nahm meine alten Gewohnheiten aus Hagi wieder auf und ging nachts auf Erkundungen. Shigeru wusste nichts davon, weil ich verschwand, während er bei Lady Maruyama war, und Kenji bemerkte es entweder nicht oder tat wenigstens so. Ich hatte das Gefühl, so körperlos zu werden wie ein Geist. Am Tag lernte und zeichnete ich, bei Nacht ging ich wie ein Schatten durch die kleine Stadt auf der Suche nach dem Leben anderer Menschen. Oft kam mir der Gedanke, dass ich nie ein eigenes Leben haben, sondern immer zu den Otori oder dem Stamm gehören würde.
Ich beobachtete Kaufleute beim Kalkulieren des Verlusts, den der Wasserschaden ihnen bringen würde. Ich beobachtete die Stadtbewohner, wenn sie in den Bars tranken und spielten und sich am Arm von Prostituierten wegführen ließen. Ich beobachtete Eltern im Schlaf, ihre Kinder lagen zwischen ihnen. Ich stieg Mauern und Abflussrohre hinauf, ging über Dächer und an Zäunen entlang. Einmal schwamm ich durch den Burggraben, erkletterte die Schlossmauern und das Tor und beobachtete die Wachen; ich war ihnen so nah, dass ich sie riechen konnte. Es verwunderte mich, dass sie mich weder sahen noch hörten. Ich belauschte die Leute, wach und schlafend, hörte ihre Proteste, ihre Flüche und ihre Gebete.
Vor dem Morgengrauen ging ich bis auf die Haut durchnässt zur Herberge zurück, zog die nassen Sachen aus und schlüpfte nackt und schaudernd unter die Decken. Ich döste und hörte, wie das Haus um mich herum erwachte. Zuerst krähten die Hähne, dann krächzten die Krähen; Dienstboten standen auf und holten Wasser; Holzschuhe klapperten über die hölzernen Brücken; Raku und die anderen Pferde wieherten in den Ställen. Ich wartete auf den Augenblick, da ich Kaedes Stimme hörte.
Der Regen strömte drei Tage lang herab und ließ dann langsam nach. Viele Leute kamen zur Herberge, um mit Shigeru zu reden. Ich lauschte den vorsichtigen Gesprächen und versuchte zu unterscheiden, wer dem Lord gegenüber loyal war und wer nur zu gern daran beteiligt wäre, ihn zu verraten. Wir gingen zum Schloss, um Lord Kitano Geschenke zu bringen, und
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