Das Schwert in Der Stille
hast«, ermahnte mich Kenji. Ich fand, dass er ziemlich übertrieb, doch der Tohan warf mir einen verächtlichen Blick zu, schaute flüchtig auf die Bilder, ging hinaus und setzte sich unter einen Baum.
Ich nahm den Tuschstein heraus, und Makoto brachte mir etwas Wasser. Ich bereitete die Tusche zu und entfaltete eine Papierrolle. Ich wollte der Hand des Meisters nachspüren und feststellen, ob er über die Kluft der Jahre hinweg das, was er gesehen hatte, in meinen Pinsel übertragen könne.
Draußen war die Nachmittagshitze stärker geworden; sie schimmerte, und das Gellen der Grillen steigerte sich noch. Die Bäume warfen große, tintige Schattenteiche. In der Halle war es kühler und dämmrig. Die Zeit verlangsamte sich. Ich hörte den Atem des Tohan, während er einschlief.
»Die Gärten sind ebenfalls Sesshus Werk«, sagte Makoto, und er und Kenji setzten sich auf die Matten, wandten mir und den Bildern den Rücken zu und schauten hinaus auf Felsen und Bäume. In der Ferne murmelte ein Wasserfall, zwei Holztauben gurrten. Von Zeit zu Zeit machte Kenji eine Bemerkung oder stellte eine Frage über den Garten, und Makoto antwortete ihm. Ihr Gespräch wurde immer zusammenhangloser, bis auch sie zu dösen schienen.
Jetzt war ich allein mit Pinsel und Papier und den unvergleichlichen Malereien. Ich spürte, wie sich die Schärfe und die Konzentration, die ich in der vergangenen Nacht empfunden hatte, erneut meiner bemächtigten, wie sie mich in den gleichen tranceähnlichen Zustand versetzten. Es machte mich ein wenig traurig, dass die Fähigkeiten des Stamms den künstlerischen Fähigkeiten so ähnlich sein sollten. Ich hatte den überwältigenden Wunsch, wie der große Sesshu zehn Jahre lang hier zu bleiben und jeden Tag zu zeichnen und zu malen, bis meine Bilder lebendig würden und davonflögen.
Ich machte Kopien von dem Pferd und den Kranichen, Kopien, die mich nicht im Geringsten befriedigten, und dann malte ich den kleinen Vögel von meinem Berg, wie ich ihn beim Näherkommen mit einem weißen Aufblitzen seiner Flügel davonfliegen sah.
Ich war in die Arbeit versunken. Aus weiter Ferne hörte ich Shigeru mit dem alten Priester reden. Ich hörte nicht wirklich zu, ich nahm an, dass er bei dem Alten einen geistlichen Rat suchte, eine Privatangelegenheit. Doch die Worte drangen mir ins Ohr, und langsam dämmerte mir, dass es in ihrem Gespräch um etwas ganz anderes ging: lästige neue Steuern, Einschränkung der Freiheit, Iidas Gier, die Tempel zu zerstören, mehrere tausend Mönche in abgelegenen Klöstern, die alle als Krieger ausgebildet waren und darauf brannten, die Tohan zu besiegen und die Länder den Otori zurückzugeben.
Wehmütig lächelte ich vor mich hin. Meine Auffassung vom Tempel als einem Ort des Friedens, einer Zuflucht vor dem Krieg war ziemlich unangebracht. Die Priester und Mönche waren ebenso kampflustig wie wir, ebenso auf Rache versessen.
Ich machte eine weitere Kopie von dem Pferd und war glücklicher damit. Etwas von seiner wilden Kraft hatte ich eingefangen. Ich spürte, dass Sesshus Geist mich tatsächlich über die Zeit hinweg berührt und vielleicht daran erinnert hatte, dass das Talent freigesetzt wird, wenn die Wahrheit Illusionen zerstört.
Dann hörte ich von weit unten etwas anderes, das mein Herz rasen ließ: Kaedes Stimme. Die Frauen und Abe stiegen die Stufen zum zweiten Tor herauf.
Leise rief ich Kenji zu: »Die anderen kommen.«
Makoto stand rasch auf und huschte leise davon. Gleich darauf betraten der alte Priester und Lord Shigeru die Halle, wo ich die letzten Striche an der Kopie des Pferdes machte.
»Ah, Sesshu hat zu dir gesprochen«, sagte der alte Priester lächelnd.
Ich gab Shigeru das Bild. Er saß noch da und betrachtete es, als die Damen und Abe zu uns stießen. Der Tohan wachte auf und versuchte so zu tun, als habe er gar nicht geschlafen. Das Gespräch drehte sich nur um Bilder und Gärten. Lady Maruyama schenkte Abe weiterhin besondere Aufmerksamkeit, fragte nach seiner Meinung und schmeichelte ihm, bis sogar er sich für das Thema zu erwärmen schien.
Kaede betrachtete die Skizze des Vogels. »Darf ich das haben?«, fragte sie.
Ich antwortete: »Wenn es Ihnen gefällt, Lady Shirakawa. Ich fürchte, es ist sehr armselig.«
»Es gefällt mir«, sagte sie leise. »Es lässt mich an Freiheit denken.«
Die Tusche war in der Hitze rasch getrocknet. Ich rollte das Papier zusammen und gab es ihr, wobei meine Finger die ihren einen Augenblick lang
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