Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)
stehen.
»Erhebe dich!«, sagte er so laut, dass es von den Berghängen widerhallte. »Erhebe dich im Namen Gottes!«
Der Junge, der im Staub lag, stützte sich auf die Ellenbogen. Sein Oberkörper war verbunden. In der Dunkelheit wirkte das Blut darauf schwarz. Langsam kam er auf die Beine. Er schwankte, als Nicolaus ihn mit dem Schäferstab berührte.
»Gott liebt dich.« Nicolaus trat vor den nächsten Verletzten, ein Mädchen mit einem blutigen, notdürftig geschienten Bein. Ein Junge hockte hinter ihrem Kopf und verbeugte sich tief, als er Nicolaus sah. Ich kannte die beiden nicht.
»Erhebe dich im Namen Gottes.« Das Mädchen nickte. Ich biss mir auf die Lippen, als es sich aufrichtete. Im nächsten Moment sackte es mit einem Aufschrei zusammen. Der Junge stützte den Kopf des Mädchens.
Nicolaus ging die Reihe der Verletzten weiter ab. Überall standen Menschen auf und kamen zur Straße. Im schwindenden Licht glaubte ich in ihren Gesichtern das zu sehen, was auch ich fühlte: Hoffnung.
»Was macht er da?«, fragte Diego. »Denkt er etwa …?« Er unterbrach sich. »Er will ein Wunder vollbringen, oder? Die Lahmen gehen lassen, die Blinden sehend machen?«
Da war sie wieder, diese Leichtfertigkeit, die ich schon so oft bei ihm erlebt hatte. Dieses Mal ignorierte ich es, achtete stattdessen nur auf Nicolaus und seinen langen, einsamen Weg.
Ein paar Verletzte standen auf, wenn er sie ansprach, doch die meisten blieben liegen. Er ließ niemanden aus, weder die Sterbenden noch die mit zerquetschten oder abgehackten Glied maßen. Als er am Ende der Straße angekommen war, konnte ich in der Dunkelheit nichts mehr erkennen. Irgendjemand zündete eine Fackel an und brachte sie Nicolaus. Ich sah nicht, wer es war, vielleicht Hugo, vielleicht aber auch Lukas.
Gemeinsam gingen sie den Weg zurück. Noch einmal blieb Nicolaus vor all denen, die noch am Boden lagen, stehen, ebenso wie vor denen, die bereits wieder zusammengebrochen waren.
Dumpfes Murmeln setzte ein. Die Menschen begannen zu beten. Meine Muskeln schmerzten, als ich mich erhob und den Hügel hinab zu ihnen ging. Ich hockte mich neben Konrad, ergriff seine und Eriks Hand und fiel in das Gebet ein. Diego blieb allein zurück.
Wir beteten die ganze Nacht hindurch. Unablässig schritt Nicolaus die Reihe ab, stellte immer wieder dieselbe Frage. Nach einer Weile klang seine Stimme heiser, und seine nackten Fußsohlen schlurften durch den Staub. Doch er machte weiter. Nur die Fackelträger wechselten sich ab.
Unzählige Male kam er an Erik vorbei. Der Junge versuchte aufzustehen, aber die Wunde war zu schwer, er selbst zu schwach. Konrad und er beteten zu Gott, zur Mutter Gottes und zu den Heiligen. Ab und zu schlief einer von ihnen ein, aber der andere weckte ihn stets.
Am Morgen, als das erste graue Licht den Boden berührte, blieb Nicolaus stehen. Er trank einen Kelch Wein, den Hugo ihm reichte, dann wandte er sich an uns alle.
»Während der Schlacht hat der Engel zu mir gesprochen.« Die Menge rückte enger zusammen. Diejenigen, die geschlafen hatten, wurden von anderen geweckt und setzten sich auf. »Er sagte: ›Sieh, wie deine Brüder und Schwestern kämpfen. Sind sie nicht mutig wie Löwen?‹« Einige Jungen klopften sich gegenseitig auf die Schulter. »Ich sah hin, so wie es der Engel befohlen hatte. Ich sah ihren großen Mut, aber ich sah auch, wie sie unter Schwertern und Pfeilen fielen. Ich fragte den Engel: ›Wieso nimmt mir der Herr die Frommsten weg, die, die es verdient hätten, das Heilige Land mit eigenen Augen zu sehen? Wieso schwächt er uns vor unserem großen Kampf?‹«
Ich hörte atemlos zu. Er hatte dem Engel die gleichen Fragen gestellt, die auch mich beschäftigten.
»Der Engel sagte: ›Wenn nur ein Einziger bei dir wäre, so würdest du doch siegreich sein. Und trauere nicht um die Gefallenen. Sie sehen Gottes Himmelreich. Das ist mehr als das Heilige Land.‹«
Menschen nickten und riefen »Amen«.
»›Aber was ist mit den Verletzten?‹, fragte ich. ›Mit jenen, denen der Feind Beine und Arme genommen hat, die zu schwach für die lange Reise sind?‹«
Nicolaus drehte sich langsam, als wolle er jeden einmal ansehen. Es wurde still. Wir alle spürten, dass er zu den wichtigsten Worten des Engels kam.
»›Sorge dich nicht um sie‹, sagte der Engel. ›Dank Gottes großer Gnade werden sich all die aus dem Staub erheben und stolz neben dir schreiten, die ohne Fehl sind. Doch die Sünder, die deine heilige Reise
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