Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)
den Kopf und nahm seinen Stock. Nach einigen Schritten fügte er hinzu: »Ich bete nicht gern.«
»Warum nicht?«
»Weil ich immer Angst habe, was Falsches zu sagen.« Er sah mich an. »Was, wenn ich Gott bitte, mein Bein wieder gesund zu machen, aber er will, dass ich daran sterbe und zu ihm komme? Dann will ich doch etwas, was Gott nicht will. Und dann wird er bestimmt wütend, weil ich mich ihm widersetze, obwohl ich gar nicht weiß, dass ich das tue.«
Ich presste die Lippen fest aufeinander, um nicht zu lachen. »Gott wird nicht wütend, wenn du um etwas bittest, das er dir nicht gewähren kann.«
»Woher weißt du das?«
Ich wusste es nicht. Trotzdem gab ich ihm eine Antwort. »Weil es ungerecht wäre. Und Gott ist gerecht, oder glaubst du etwa nicht?«
»Doch.« Er hinkte mit gesenktem Kopf weiter. Regen tropfte aus seinen Haaren. »Wenn er nicht gerecht ist, wer sonst?«
Er klang erwachsener als je zuvor. Mir wurde auf einmal klar, dass ich nichts über ihn wusste. »Erik«, begann ich. »Warum bist …«
»Sieh mal«, unterbrach er mich, bevor ich die Frage beenden konnte. »Der Pfad knickt ab.«
Vor uns verschwand der Pfad zwischen den Felsen, führte weg von der Schlucht. Ich atmete auf. Die Vorstellung, die Nacht am Rande des Abgrunds verbringen zu müssen, hatte mir keine Ruhe gelassen.
Als wir die Abzweigung erreichten, sah ich, dass der Weg kaum breiter wurde, aber steil anstieg. An manchen Stellen bildeten die moosbewachsenen Felsen fast schon eine Treppe. Wasser lief in schmalen Bahnen über sie und tropfte hinter uns in die Schlucht.
Erik blieb stehen. Kinder schoben sich an der Felswand vorbei, ohne uns zu beachten. »Wie sollen wir da raufkommen?«
»Wir schaffen das.« Ich sah mich um. Dort, wo der Pfad abknickte, gab es eine Spalte im Fels, halb verdeckt von Sträuchern. Sie war breit genug für einen Menschen. Ich berührte Eriks Schulter. »Geh dort hinein. Iss etwas. Ich pass auf, dass es niemand sieht.«
Er nickte und hinkte hinter die Sträucher. Ich betrachtete die Gesichter der Menschen, die sich auf den Weg nach oben machten. Die meisten wirkten hoffnungsvoll, wenn auch ein wenig unsicher. Anspannung sah ich nur in denen der wenigen Erwachsenen.
Es dauerte nicht lange, bis Erik neben mir auftauchte. »Ich habe etwas für dich liegenlassen«, sagte er leise.
Brot und ein faustgroßes Stück Käse erwarteten mich, als ich die Sträucher zurückbog. Das Brot war hell, fast so weiß wie die in den Häusern der Reichen, und weich. Der Anblick reichte, um meinen Mund mit Speichel zu füllen.
Ich biss in den Käse.
Mein Magen schien in meine Kehle springen zu wollen, so als könne er die Nahrung kaum noch erwarten. Ich schlang Brot und Käse hinunter, ohne etwas zu schmecken. Mir war nicht klar gewesen, wie hungrig ich war. Ich verschluckte mich und musste husten.
»Ist das Madlen?«, fragte eine Stimme vor den Sträuchern. Es war Elses.
»Ja«, sagte Erik. Durch die Blätter sah ich, wie er sich zwischen mich und das Mädchen stellte.
»Was macht sie denn da?«
Ich wandte mich rasch ab und griff nach meinem Wasserschlauch. Der Hustenreiz ließ nicht nach.
»Was glaubst du wohl, was sie da macht?«, fragte Erik zurück.
»Brauchst du noch lange?«, rief Else. »Ich muss auch.«
Ich konnte nicht antworten. Mein Mund war voller Brot. Ich kaute und hustete in meinen Hemdsärmel. Eine Nadel schien in meiner Kehle zu sitzen. Mir stiegen Tränen in die Augen.
»Was ist denn los, Madlen?« Else klang auf einmal besorgt.
»Es ist nichts«, sagte Erik. »Geh weiter. Dort oben gibt es bestimmt noch andere Spalten, in die du dich hocken kannst.«
»Ich will mich aber in die hocken.«
Ich spuckte einen Teil des trockenen Brots aus und schluckte den Rest herunter, während sich die beiden weiter stritten.
»Bin gleich fertig«, rief ich, als mein Mund endlich leer war. »Moment noch.«
Rasch schob ich die Brotreste mit dem Fuß unter einen Strauch. Zum ersten Mal seit Tagen war mein Magen voll. Ich trat aus der Felsspalte. »So, jetzt kannst du.«
Else setzte zu einer Antwort an, stutzte dann jedoch. Erik drehte sich zu mir um. Seine Augen weiteten sich. Ich ahnte, was sie sahen, noch bevor ich an mir herunterblickte und die Brotkrumen auf meinem Hemd entdeckte. Auf dem nassen, schmutzigen Leinen schienen die weißen Krumen wie Schneeflocken zu leuchten.
»Woher hast du das Brot?«
Ich klopfte die Krumen von meinem Hemd. »Von den Karren, die abgeladen wurden. Jeder, der
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