Das sechste Opfer (German Edition)
Fälle. Obwohl ich mir sicher war, dass sich darauf weder Fingerabdrücke noch andere Identifizierungsmöglichkeiten befanden.
Danach ging ich durch die Stadt, suchte mir eine sichere Unterkunft und wartete auf den kommenden Tag.
Als ich ein kleiner Junge war, spielte ich ganz gut Flöte. Ich mochte das Instrument, auch wenn mein Vater mich immer ins hinterste Zimmer schickte, wenn ich übte. Aber es war schön, Melodien zu erzeugen und Lieder zu spielen, die andere dann mitpfiffen oder mitsangen. Einmal in der Woche hatte ich Unterricht bei einer dicken Lehrerin, die immer dunkle Schweißringe um ihre Achselhöhlen hatte und deren Stimme klang wie das Brummen eines LKW. Mit ihren dicken Fingern deckte sie mühelos die Löcher der Flöte ab und spielte so wunderschön, dass ich große Augen bekam. Sie war einmal Konzertflötistin gewesen, musste aber aus Gesundheitsgründen aufhören, wie sie behauptete. Ich liebte diese Stunden, denn die Lehrerin erzählte am liebsten aus ihrer Zeit beim Philharmonischen Orchester. In schillerndsten Farben beschrieb sie das Innenleben der Mailänder Scala und der Carnegie Hall in New York, sie tuschelte über gemeine Intrigen innerhalb des Orchesters und schwärmte mit verklärtem Blick von dem weißhaarigen Dirigenten, der sie immer »meine Schöne« genannt hatte. Ich konnte ihr stundenlang zuhören, auch wenn sie dann zu der Stelle kam, an der sie von der unheilbaren Krankheit berichtete, die sie niederwarf und die ihr das ständige Reisen unmöglich machte. Mein Vater vermutete, dass sie einfach zu dick für die Flugzeugsitze geworden war, aber ich glaubte ihr die Geschichte mit der Krankheit. Nach dem Unterricht fuhr ich zufrieden wieder nach Hause, mit ein paar Hausaufgaben im Gepäck, die sie in der nächsten Stunde wahrscheinlich sowieso nicht abfragen würde, aber ich übte sie trotzdem. Einfach nur, weil ich die Musik mochte und mir dabei die Mailänder Scala vorstellte.
Es ist schon seltsam, woran man alles denkt, wenn man wartet. Meine Gedanken in dieser Nacht waren bei dieser Lehrerin, an deren Namen ich mich allerdings nicht erinnern konnte. Erst wunderte ich mich, wieso sie auf einmal in meinem Hirn herumspukte, bis mir einfiel, dass zu den angenehmen Flötenstunden auch Auftritte gehörten, die alles andere als angenehm waren. Wann immer sich eine Gelegenheit ergab, musste ich meine Künste unter Beweis stellen und etwas auf der Flöte vorspielen. Am schlimmsten war es in der Schule, wenn in der Aula Zeugnisvergabe oder ein besonderer Elternabend war. Dann knöpften sich die Lehrer alle Schüler vor, die etwas Kulturelles zum Besten geben konnten und zwangen sie, vor unzähligen Eltern- und Schüleraugen zu spielen. Und das hatte ich gehasst. Schon Tage vorher verdarb es mir den Appetit, sobald ich nur an den Auftritt dachte, meine Hände wurden kalt und feucht und ich überlegte, was ich mir nur dabei gedacht hatte, dieses Instrument jemals angefasst zu haben. Ich beneidete die Schulkameraden, die nur ein Gedicht aufsagen oder ein Lied singen mussten, denn die brauchten keine Furcht davor zu haben, dass ihre vom Angstschweiß nassen Finger während des Vortrages von der Flöte rutschen würden.
Ich versuchte, mich mit allen möglichen Mitteln zu beruhigen, doch meistens half das nicht. Ein Klassenkamerad, der mit seiner Geige spielen sollte, hatte den guten Tipp, vorher etwas Alkohol zu trinken, wie es sein Vater immer vor unangenehmen Terminen tat, aber nachdem ich gesehen hatte, wie mein Freund sich beim Auftritt nicht mehr an den Anfang seines Stückes erinnern konnte und danach in einem Lachkoller zusammenbrach, ließ ich das lieber sein. Ich übte dafür ein bisschen mehr, in der Hoffnung, dass das meine Nerven beruhigen könnte. Doch das Merkwürdigste daran war, dass ich mich tief in meinem Innersten darauf freute, zu spielen, mein Können unter Beweis zu stellen. Dass ich zwar vor Aufregung am liebsten im Erdboden versinken wollte, aber gleichzeitig der Stille vor dem Auftritt entgegenfieberte, den erwartungsvollen Augen der Zuhörer und der Gänsehaut, die ich bekam, wenn ich gut spielte.
All das geisterte durch mein Hirn, während ich in einem kleinen Gartenhäuschen irgendwo in Zehlendorf auf einer alten, abgenutzten Couch lag und auf den Morgen wartete. Das Grundstück lag verlassen in einer weniger vornehmen Straße, so dass ich nicht damit rechnen musste, überrascht zu werden. Aber dennoch verbrachte ich die halbe Nacht wach und grübelte.
Was
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