Das sechste Opfer (German Edition)
würde mich morgen 12 Uhr erwarten? Würde ich dann endlich die Antworten auf all meine Fragen erhalten? Oder war das Ganze vielleicht nur eine Falle? Hatten sie mittlerweile herausgefunden, dass ich mich in ihre Reihen geschlichen hatte? Was würde passieren, wenn mich Manuel erkannte? Er war mit Sicherheit auch dort, um seinen Job zu machen, wie auch immer der aussah. Also bestand durchaus die Möglichkeit, dass er mich sah und verriet. Oder ich verriet mich selbst, weil ich nicht den leisesten Schimmer hatte, wie ich mich zu verhalten hatte. Wurde ein Codewort verlangt? Oder benutzten sie bestimmte Gesten oder andere Erkennungsmerkmale? Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht einmal, wen ich ansprechen musste, wer mein Boss war. Aber das wusste wohl keiner, hatte Manuel jedenfalls behauptet.
Durch all diese Überlegungen bemächtigte sich meiner eine unangenehme Unruhe. Eine Nervosität, die wie damals in meinen Gedärmen rumorte und mir schweißnasse Hände bescherte.
Auf der anderen Seite musste ich aber auch dahin und herausfinden, was dort geschehen würde. Ich musste mich der Situation stellen, um Antworten zu erhalten. Ich hatte keine Wahl.
Ich war drei Stunden zu früh am vereinbarten Treffpunkt am Schlachtensee. So unauffällig wie möglich stand ich in meiner Uniform dem S-Bahnhof gegenüber am Kiosk und beobachtete die Leute, die sich an diesem Morgen bei schönem Wetter am See aufhielten.
Der Kioskbesitzer schien sich nicht um mich zu kümmern, vielleicht sah er tagtäglich Polizisten, die drei Stunden regungslos an seinem Kiosk standen und die Leute beobachteten. Er sortierte seine Würste, stapelte Kisten und bediente hin und wieder ein paar eilige Kunden mit einem belegten Brötchen oder verkaufte einem Jogger eine Flasche Wasser.
Wenn ich vor wenigen Tagen noch Angst hatte, erkannt zu werden, so hatte sich das gelegt, sobald ich die Uniform trug. Sie war wie ein Unsichtbarkeitsmantel. Als würde darunter jegliche Persönlichkeit verschwinden und ihr Träger zu einem austauschbaren Etwas werden, weder Mensch noch Tier, eben ein Uniformierter. Außerdem schienen die Leute die seltsame Angewohnheit zu haben, einen Mann in Uniform lieber nicht zu genau anzusehen. Als ob eine tiefsitzende Angst ihnen riet, sich nicht mit den Behörden anzulegen. Als meldeten sich plötzlich sämtliche unbezahlten Strafzettel und geklauten Schokoriegel der Vergangenheit aus dem Unterbewusstsein. Lieber wegsehen, eilig den Geschäften nachgehen und ganz unbeteiligt tun.
Diese Uniform war ideal für mich. Und da selbst diejenigen, die es doch wagten, mich anzusehen, niemals vermuten würden, dass sich ein gesuchter Schwerverbrecher in einer Polizeiuniform verstecken würde, war ich absolut sicher und hatte alle Ruhe der Welt, an diesem Kiosk zu stehen und ein waches Auge auf die Umgebung zu haben.
Viele Jogger kamen vorüber, ein paar Spaziergänger mit Hunden und einzelne Väter oder Mütter mit Kinderwagen. Nichts Auffälliges.
Über mir donnerte alle zehn Minuten eine S-Bahn Richtung Wannsee, und in exakt demselben Abstand auch wieder eine Richtung City. Nur wenige Spaziergänger verließen die Bahn und wanderten gemütlich zum See.
Der Autoverkehr auf der Straße war ebenfalls eher ruhig, und nur wenige Wagen hielten an und parkten. Die meisten Leute blieben auf der anderen Seite der S-Bahn-Schienen, dort, wo sich die Geschäfte und Banken befanden.
Ich hätte gern eine Bockwurst gegessen, aber daran war in Hinblick auf meine Finanzen nicht zu denken. Also ignorierte ich meinen Hunger und beobachtete das Geschehen.
Alles schien normal, nichts gab mir einen Hinweis darauf, was mich gleich erwarten würde. Bis ich einen Vater mit Kinderwagen zum zweiten Mal sah.
Wie schon ungefähr eine halbe Stunde zuvor, kam ein Mann mit einem Kinderwagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang geschlendert. Er trug Jeans, ein unauffälliges T-Shirt und darüber einen grauen Blouson. Er war mir beim ersten Mal aufgefallen, weil er viel zu jung für einen Hausmann wirkte, der sein Kind spazieren fuhr. Oder weil seine Haltung überhaupt nichts Väterliches hatte – und weil er dem anderen Polizisten, der mich mit Carl Meyer verfolgt und auf mich geschossen hatte, zum Verwechseln ähnlich sah. Er schob den Wagen steif und emotionslos vor sich her. Sein Blick war in die Ferne gerichtet und wanderte nicht einmal zu seinem Kind, das ruhig zu schlafen schien.
Ich sah schnell woanders hin, damit er mich nicht erkannte, als er erneut
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